Ein Schafskäse aus Griechenland, der erstens nicht aus Griechenland und zweitens auch kein Schafskäse ist. Wer die Verpackung umdreht und nachliest, kann erkennen, dass es sich um Kuhmilchkäse aus Deutschland in Rapsöl handelt. Alle anderen sehen den sympathischen Hirten, das Olivenöl, den griechisch klingenden Produktnamen. Und leben damit in der romantischen Welt, die Marketingexperten für sie konstruieren.
Katrin Mittl arbeitet beim Verein für Konsumenteninformation und betreut die Website Lebensmittel-Check. Eine Plattform, die solche und ähnliche Täuschungsmanöver enttarnt. Über 450 veröffentlichte Einträge finden sich dort. „Konsumenten melden Produkte, durch die sie sich in die Irre geführt fühlen, wir veröffentlichen sie und treten mit dem Hersteller in Kontakt. Wir können nur zwei Mal pro Woche ein solches Produkt auf die Plattform stellen – mehr erlauben unsere Ressourcen nicht. Hätten wir die, könnten wir täglich mehrere Fälle veröffentlichen.“
Der Mensch ist ein kognitiver Geizhals
Als kluges Marketing, als erfolgreiche Werbung bezeichnen es die Unternehmen. Als bewusste Täuschung die Konsumentenschützer. Und dazwischen schlendert Anna Winkler durch den Supermarkt, überfordert ob der vielen Entscheidungen, die ihr hier abverlangt werden. Frau Winkler hat ihre zehnjährige Tochter mit, wenn sie einkaufen geht. Da bleibt ihr nicht die Zeit, sich im Detail mit jedem Produkt auseinanderzusetzen, die bunten Verpackungen umzudrehen und nachzulesen, was genau die Inhalte sind und woher diese kommen. Anna Winkler ist dankbar für Entscheidungshilfen. Sie ist in diesem Fall eine erfundene Person – doch Menschen wie sie findet man vor jedem Kühlregal, wie sie nach Orientierung suchen und dabei in der Regel automatisierten Entscheidungsprozessen folgen.
„Der Mensch ist ein kognitiver Geizhals. Wir sind faul beim Denken und vertrauen auf mentale Faustregeln, wir folgen der Intuition und sparen damit wertvolle Kapazitäten. Diese Prinzipien macht sich die Werbung bewusst zu nutze.“
Julia Pitters, Wirtschaftspsychologin und Trendforscherin
„Der Mensch ist ein kognitiver Geizhals“, erklärt die Wirtschaftspsychologin und Trendforscherin Julia Pitters: „Wir sind faul beim Denken und vertrauen auf mentale Faustregeln, wir folgen der Intuition und sparen damit wertvolle Kapazitäten. Diese Prinzipien macht sich die Werbung ganz bewusst zu nutze. Sie kann unsere Wahrnehmung gezielt steuern, sodass wir sehen, was wir sehen sollen.“
Zu diesen mentalen Faustregeln gehören soziale Normen – je mehr etwas kaufen, desto eher kaufe ich es auch. Zum Beispiel: Neun von zehn Frauen fühlen sich mit dieser Damenbinde besser. Ob das wirklich stimmt, kann niemand überprüfen. Aber es klingt gut. Oder: Menschen in weißen Ärztekittel werden als Autoritäten wahrgenommen: Man glaubt ihnen, was sie sagen.
„Die Konsumenten sind einer unglaublichen Reizüberflutung ausgesetzt und die Märkte sind übersättigt. […] Man braucht einen Zusatznutzen, der die Motivlage des Konsumenten erreicht. Und wenn es den nicht gibt, sucht man eben einen.“
Floortje Schilling, Werbepsychologin
„Vitamine und Naschen“
Dass viele Unternehmen es dabei mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, zeigen viele Beispiele. Ein Joghurt, das einen Blähbauch reduzieren soll. Fruchtgummis, die quasi gesund sind, weil „Vitamine und Naschen“. Freiland auf der Verpackung suggeriert „Bio“ im Inhalt, entspricht aber nicht den Tatsachen.
Floortje Schilling ist Werbepsychologin und sieht in all diesen Strategien den oft verzweifelten Versuch der Unternehmen, sich auf den gesättigten Märkten irgendwie durchzusetzen: „Die Konsumenten sind einer unglaublichen Reizüberflutung ausgesetzt und die Märkte sind übersättigt. Da ist es für die Unternehmen oberstes Gebot, überhaupt wahrgenommen zu werden. Wenn es bereits fünfzig Joghurts gibt, die alle ähnlich schmecken, wie soll man dann das einundfünfzigste argumentieren? Man braucht einen Zusatznutzen, der die Motivlage des Konsumenten erreicht. Und wenn es den nicht gibt, sucht man eben einen.“
Die Grenze ist für Floortje Schilling dort erreicht, wo tatsächlich gelogen wird: „Wenn man einen Kuhmilchkäse mit einer griechischen Schafmilch-Idylle versieht und der gut schmeckt und niemandem schadet, dann kann man das vielleicht noch unter den Begriff der Produktromantik einordnen. ‚Vitamine und Naschen‘ finde ich da schon wesentlich problematischer. Was damit suggeriert wird, ist nämlich einfach nicht wahr. Jeder Verkäufer eines Gebrauchtwagens wird sein Gut idealisieren und auf Schwächen nicht zuallererst hinweisen. Das ist legitim. Nur lügen darf er nicht.“
„Je kürzer die Zutatenliste, umso besser. Wenn ich die Hälfte der Inhalte nicht aussprechen kann, dann würde ich das Produkt nicht kaufen.“
Katrin Mittl, Verein für Konsumenteninformation
Für Konsumenten wie Anna Winkler jedenfalls ist diese Welt kaum zu durchschauen. Sie bezeichnet sich zwar als mündige Konsumentin, die mit Hausverstand einkauft. Doch stellt sie regelmäßig fest, dass ein Produkt, nach dem sie schon seit Langem immer wieder greift, den versprochenen Vorteil gar nicht hat. Oder noch schlimmer: einen gravierenden Nachteil hat, der sich hinter fragwürdigen Inhaltsangaben versteckt hat. Heinz Schöffl vom Konsumentenschutz der Arbeiterkammer empfiehlt, sich das Kleingedruckte genau anzusehen. Alles, was groß und auffällig geschrieben ist, sei aus Sicht des Marketings zu hinterfragen. „Wenn ein Zusatzstoff gut klingt, nennt man ihn beim Namen. Wenn er furchterregend klingt, versteckt man ihn hinter einem E-Namen. Oder man nimmt beispielsweise Konservierungsmittel raus und preist das groß an – dafür ist das Produkt dann aber aromatisiert oder gefärbt, was dann natürlich nicht da steht.“ Katrin Mittl vom Verein für Konsumenteninformation rät: „Je kürzer die Zutatenliste, umso besser. Wenn ich die Hälfte der Inhalte nicht aussprechen kann, dann würde ich das Produkt nicht kaufen.“
Wieviel Wahrheit ist auszuhalten?
Die Wahrheit ist dem Menschen zwar zuzumuten – immer gewünscht ist sie aber nicht. Denn neben der Vereinfachung einer komplexen Welt gibt es eine Reihe psychologischer Gründe, warum die Wahrheit und nichts als die Wahrheit den Menschen heillos überfordern würde. Die Wirtschaftspsychologin Julia Pitters erklärt diese These so: „Der Mensch strebt danach, sich gut und nachhaltig zu verhalten. Zumindest gefällt ihm dieses Selbstbild besser als sein Gegenteil. Wenn er etwas tut, was dem zuwider läuft, dann ergibt sich eine Schere zwischen Selbstbild und Handlung, eine kognitive Dissonanz. Das ist etwas sehr Ungemütliches. Dann muss er entweder sein Konsumverhalten ändern – das wäre der anstrengende Weg – oder er passt seine Wahrnehmung an und fokussiert sie auf jene Reize, die in sein Konzept passen. Die Werbung spielt ihm da gut in die Hände.“ Anna Winkler kauft ihrer Tochter nur ungern Süßigkeiten, weil ungesund. Die Kleine möchte trotzdem Fruchtgummis haben. Der Werbeslogan „Vitamine und Naschen“ macht Frau Winkler das Leben ein wenig leichter. Er verringert ihre kognitive Dissonanz.
Täuschung: Die Wahrheit kann überfordern
Die Werbepsychologie hat erforscht, warum die Warnhinweise auf Zigarettenpackungen nicht besonders effektiv sind. „Rauchen kann tödlich sein“ sei schlichtweg zu abstrakt: „Das ist für den Raucher so weit weg, das kann er ausblenden, weil er es nicht einordnen kann. Würde hingegen auf der Packung stehen ‚Rauchen macht Mundgeruch‘ oder ‚Rauchen macht hässlich‘, dann müsste er sich damit auseinandersetzen, weil es ihn unmittelbar betrifft“, beschreibt Julia Pitters dieses Phänomen. Sie ist der Ansicht, dass der Mensch die Wahrheit vertrage, solange er sein Kontrollbedürfnis befriedigen könne. Würde auf jedem Produkt die ganze Wahrheit stehen, so wäre er damit überfordert. „Wenn ich in jedem Produkt irgendetwas Problematisches sehe – und sei es nur die Plastikverpackung – dann erscheint mir mein Wunsch nach einem ökologischen Ernährungsstil nicht mehr erreichbar. Ich verliere die Kontrolle und beschäftige mich gar nicht mehr damit, weil ich mein Ziel ohnehin nicht mehr erreichen kann. Die ganze Wahrheit wird zu schwer zu verdauen sein. Wenn es so kompliziert scheint, sich korrekt zu verhalten, rutscht man in die Hilflosigkeit, in die Lethargie, in die Gleichgültigkeit“, meint Pitters.
„Bei den Magermodels heißt es immer, die Werbung sei schuld. In Wahrheit aber geht es da um gesellschaftliche Werte, um Schönheit, um Selbstkontrolle und um die permanente Darstellung von Vorbildern, die durch die Werbung verstärkt und zugespitzt werden.“
Floortje Schilling, Werbepsychologin
Das heißt: Wir wollen also nicht nur in gewisser Weise getäuscht werden, um unser Selbstbild zu erhalten, sondern auch, weil es sonst unsere kognitiven Kapazitäten überfordern würde.
Was die Werbung mit uns macht ist aber immer auch das, was wir zulassen. So kann Werbung – auch wenn sie noch so gut gemacht ist – Menschen nur sehr schwer manipulieren. Sie kann Tendenzen und Interessen verstärken, die ohnehin gegeben sind. Aber sie kann Menschen in aller Regel nicht dazu bringen, Dinge zu kaufen oder zu tun, die ihnen überhaupt nicht entsprechen. So sieht die Werbepsychologin Floortje Schilling die Werbung generell als Vergrößerungsglas gesellschaftlicher Tendenzen und als Spiegel des Zeitgeists: „Bei den Magermodels heißt es immer, die Werbung sei schuld. In Wahrheit aber geht es da um gesellschaftliche Werte, um Schönheit, um Selbstkontrolle und um die permanente Darstellung von Vorbildern, die durch die Werbung verstärkt und zugespitzt werden.“
Marketing oder Täuschung?
Wenn unsere Beispielkonsumentin Anna Winkler wieder einmal am Kühlregal vorbeischlendert, dann findet sie unzählige Produktnamen, Informationen und Verpackungen, die ihr nicht die Wahrheit erzählen. Das „Champignonschnitzerl“ zum Beispiel – der „Feine Klassiker“, wie das auf der Verpackung steht – vermittelt ihr den Eindruck, es handle sich um ein gewachsenes Stück Fleisch. So muss das laut Lebensmittelkodex auch sein, wenn man etwas als „Schnitzel“ bezeichnet. Die Definition des „Schnitzerl“ mit dem unverdächtigen „r“ hingegen ist nirgendwo geregelt. Tatsächlich handelt es sich um Formfleisch, also um ein aus kleinen Stücken Schweinefleisch zusammengefügtes Fleisch. Gesundheitsschädlich ist das nicht – aber wenn man Formfleisch isst, sollte man das auch wissen. Anderes Regal, ähnliche Situation: Das alkoholfreie Bier ist in aller Regel nicht alkoholfrei, sondern hat einen Alkoholgehalt unter 0,5 Prozent. Das ist für den Körper zwar nicht relevant, alkoholfrei aber ist freilich etwas anderes.
Täuschung: Rechtslage und Fortschritte
Rechtlich ist das alles relativ locker geregelt und der Graubereich wird von der Werbeindustrie ausgereizt. Konsumentenschützer fordern schon seit Längerem genauere Regelungen bei Produktverpackungen, erklärt Heinz Schöffl von der Arbeiterkammer: „Es sollte in Europa einheitliche Regeln geben für Verpackungsdesign und Inhaltsangaben. Derzeit muss immer der Einzelfall auf ‚unlauteren Wettbewerb‘ geprüft werden. Das ist viel zu aufwendig und bringt dem Konsumenten wenig. Sind auf der Verpackung drei Äpfel zu sehen aber das Produkt beinhaltet nur Apfelaroma, dann muss das auf der Verpackung stehen. Und nicht nur ganz kleingedruckt.“
Ab 2016 sind Nährwertangaben für Lebensmittel verpflichtend vorgeschrieben – für Heinz Schöffl ein wichtiger Schritt: „Bisher mussten das nur jene Produkte angeben, die zum Beispiel groß auf einen geringen Fettgehalt oder auf wenig Kalorien hingewiesen haben, also anderswo nährwertbezogene Angaben gemacht haben.“ Nährwertangaben auf der Vorderseite des Produkts, eine weitere Forderung zur adäquaten Wahrheitsvermittlung, die am Widerstand der Konzerne gescheitert ist, so Schöffl: „Am Schluss waren wir mit dieser Forderung alleine. Ein Produkt verkauft sich eben nicht mehr so gut, wenn schon auf der Vorderseite klar ersichtlich ist, dass es einen hohen Fettgehalt hat.“
Der Verein für Konsumenteninformation plädiert auf einen Mix aus drei wesentlichen Punkten: Mehr Fairness von Seiten der Unternehmen, schärfere Gesetze zum Schutz der Konsumenten. Und last but not least: Weniger Naivität und mehr kritisches Hinterfragen der Konsumenten selbst. Dann wäre der Supermarkt ein durchaus wahrheitsträchtigerer Ort. Und wenn der Mensch auch nicht die ganze Wahrheit verträgt – er sollte zumindest wissen, wo er sie findet.