Seit mehr als 40 Jahren schwelt auf der philippinischen Insel Mindanao ein Bürgerkrieg – vor allem die Kinder bleiben traumatisiert zurück und müssen mit den Erinnerungen an Tod und Vertreibung leben. Ein Kindernothilfe-Projekt schafft mit Kinderzentren, Schulungen und Friedenserziehung sichere Orte für die Kleinsten. Kindernothilfe-Mitarbeiterin Jennifer Rings war dort und durfte bei einer Lernstunde mitmachen.
„ISA, DALAWA, TATLO, APAT – EINS, ZWEI, DREI, VIER.“
Die Kinder zählen im lauten Sprechchor, erst auf Tagalog, dann auf Englisch, während die Lehrerin mit dem Zeigestab an der Tafel auf die Zahlen deutet. „Lima, amin, pito, walo – fünf, sechs, sieben acht.“ Auf die Frage, welche geometrische Form sie vor sich sehen, wird das Kinderstimmengewirr noch lauter, es sind verschiedene Dialekte zu hören, vereinzelt Englisch. Mit einem beherzten Klatschen bringt die Lehrerin wieder Ruhe in die Klasse, bittet einen kleinen Fünfjährigen nach vorne, lässt sich Kreis und Viereck zeigen. Die Vorschulkinder jubeln laut, sichtlich stolz kehrt der kleine Schüler auf seinen Platz zurück.
Wir sitzen inmitten einer Klasse von drei- bis fünfjährigen Mädchen und Buben im Day Care Center, dem Kinderzentrum von Aleosan, einer Gemeinde der philippinischen Insel Mindanao. Zwischen uns haben sich auch ein paar der Mütter der insgesamt 20 betreuten Kinder verstreut. Als Aufsichtspersonen, um Lehrerin Vivienne unter die Arme zu greifen. Und noch wichtiger: um zwischen den Kindern und der Lehrerin zu übersetzen. Hier, im Süden der zweitgrößten philippinischen Insel Mindanao, leben Maguindanao, eine Gruppe von muslimischen Einwanderern, mit den christlich orientierten Bisaya zusammen. Zahlreiche eigenständige Sprachen und noch mehr Dialekte werden neben Englisch und Tagalog gesprochen – die Kinder verstehen oft nur die eigene Sprache, die Amtssprachen Tagalog und Englisch müssen erst erlernt werden. Und auch das ist hier, in der Bürgerkriegsregion, in der seit 40 Jahren der Konflikt zwischen Rebellen und Regierung schwelt, keine Selbstverständlichkeit. Erst durch die Errichtung der Tagesstätte gibt es in Aleosan die Möglichkeit, Vorschulkinder in eine Frühförderung zu schicken.
MIT DER HILFE DER MÜTTER
„Ich freue mich jeden Tag, vor der Klasse zu stehen und die kleinen Kinder auf die Grundschule vorzubereiten“, erzählt uns Lehrerin Vivienne nach der Lernstunde. „Der Unterricht auf Englisch und Tagalog ist sehr wichtig, weil die Kinder nur die verschiedenen lokalen Dialekte sprechen und sich untereinander kaum bis gar nicht verständigen können. Nur so können sie auf den Schulbesuch vorbereitet werden.“ Natürlich sei es nicht einfach, einen solchen Haufen Kinder – bis zu 30 sind es, die hier im Day Care Center betreut werden – bei Laune zu halten, lacht Vivienne. „Aber dafür unterstützen mich ja auch einige der Mütter, die den ganzen Tag hier in der Kindertagesstätte sind.“
Während wir noch plaudern, wird rund um uns emsig vorbereitet. Es gibt Mittagessen, für die meisten Kinder die erste Mahlzeit des Tages und das einzige warme Essen, das sie heute bekommen werden. Wieder sind es die Mütter, die hier tatkräftig mitwirken: Die Suppe köchelt schon seit Stunden auf der offenen Feuerstelle in der Gemeinschaftsküche nebenan vor sich hin.
Dass Day Care Center, Mittagessen und auch der kleine Küchengarten der Tagesstätte überhaupt zur Verfügung stehen, ist alles den mittlerweile mehr als 40 Frauen-Selbsthilfegruppen mit mehr als 500 Mitgliedern zu verdanken, die seit vielen Jahren in den umliegenden Dörfern aktiv sind. Betreut vom Kindernothilfe-Projektpartner Balay Rehabilitation Center, treffen sich die Gruppen wöchentlich, sparen gemeinsam, nehmen an Workshops teil, investieren in kleine Geschäftsideen, kochen und gärtnern in der Tagesstätte – und arbeiten so tagtäglich für bessere Lebensgrundlagen für sich und ihre Familien.
VON BANANENCHIPS UND ZIEGENZUCHT
Für ein besseres Leben braucht es jedenfalls ein regelmäßiges Einkommen. In entsprechenden Trainings werden die Frauen darin geschult, realisierbare Geschäftsideen zu entwickeln. Rosita etwa stellt jetzt Bananenchips her und verkauft diese im Dorf und auf dem Markt, stolz zeigt sie uns ihre Verpackungsidee: In Papier statt in Plastik werden die Bananenchips verkauft. Auch das war Thema mehrerer vom Projekt organisierter Schulungen. Da ging es um umweltfreundliche, nachhaltige Verpackung, Etikettierung und Absatz der von den Frauen hergestellten Produkte. Malinda besitzt einen kleinen, aus Holzbrettern zusammengebauten Laden, in dem sie nicht nur Rositas Bananenchips, sondern auch Reis und andere Lebensmittel verkauft. Ein Vorteil für viele Dorfbewohner – so müssen sie nun für kleine Besorgungen nicht mehr den Fußmarsch zum Markt auf sich nehmen. Eine weitere Erwerbsquelle ist die Ziegen- und Hühnerzucht. Einige Frauen der Selbsthilfegruppen durften an 28-tägigen Trainings in Ziegenzucht teilnehmen. Und: Zusätzlich konnten sie den Gemeindeveterinär für die Untersuchung ihrer Nutztiere gewinnen, er kommt nun regelmäßig in die Dörfer.
Apropos Untersuchung: Auch für das neue Gesundheitszentrum der Gemeinde zeichnen die Frauen-Selbsthilfegruppen verantwortlich, erzählen sie uns stolz. Was zuvor mit stundenlangen Fußmärschen verbunden war, geht nun einfach im Gebäude nebenan: Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Beratungen zur Empfängnisverhütung und auch Gewichts- und Ernährungskontrolle von Kleinkindern stehen hier zur Verfügung. Mit den Kindern werden Hygieneschulungen durchgeführt. Zwei Krankenpflegerinnen sind ständig vor Ort, helfen bei kleinen Erkrankungen und verarzten Verletzungen.
GEMEINSAM FÜR DEN FRIEDEN
Neben all den Verbesserungen im Alltag ist aber die Hauptaufgabe der Selbsthilfegruppen, ein friedliches Miteinander aller Dorfbewohner zu schaffen. „Unsere Selbsthilfegruppe hat hier im Dorf den Anstoß zur Völkerverständigung gegeben“, erinnert sich Bobasan. Ihr Gesicht ist stark gefurcht, gezeichnet von den vielen Angstsituationen, die sie schon durchgemacht hat. Seit vier Jahrzehnten schwelen die gewaltsame Konflikte zwischen der philippinischen Regierung und den muslimischen Minderheiten auf Mindanao. „Nachdem wir die ersten Explosionen und Gewehrschüsse gehört hatten, haben wir uns sofort zur Flucht bereit gemacht. Mitgenommen haben wir nur unsere Tiere und unseren wichtigsten Besitz“, erzählen auch die anderen Mütter von ihren traumatischen Kriegserlebnissen. Dank der Selbsthilfegruppenarbeit gehören diese hier im Dorf nun der Vergangenheit an: „Unser Dorf wird sozusagen als sicherer Ort genutzt, wo sich im Falle eines Konflikts alle versammeln können und Familien evakuiert werden können. Wir haben sogar ein Fahrzeug gekauft, um Familien aus anderen Gegenden schnell evakuieren und hierherbringen zu können.“
Regelmäßig organisieren die Selbsthilfegruppen Friedensgespräche zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Es gibt Friedenscamps und Theaterworkshops, an denen muslimische und katholische Kinder gemeinsam teilnehmen. Auch gemischte Selbsthilfegruppen sind mittlerweile möglich: „Wenn wir Frieden unter unseren Volksgruppen haben wollen, dann müssen wir mit der Verständigung und mit gegenseitigem Respekt in unserer Gruppe anfangen“, wissen die Frauen. Ihre Freundschaft sei das beste Beispiel, betont Bobasan mit Blick auf ihre Sitznachbarin. Sie selbst ist Muslimin, ihre Freundin Katholikin. „Früher wäre so etwas undenkbar gewesen“, sagt sie, und beide lachen.
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