Laute Kinderrufe und aufgeregtes Klingeln, dazwischen ein paar „Wows“ und ein paar „Aahs“. Wenn die siebenköpfige Familie Aigner mit ihren Fahrrädern vorfährt, kann es schon einmal hektisch zugehen. Ist ihr Ausflugsziel dazu wie heute die Alpakaweide von Familie Horvat, dann mischen sich kindische Turbulenzen in die warme Sommerluft. Vier Jungs im Alter von null bis neun, die drei Älteren laufen unruhig umher. Tim ist fünf und seit Kurzem nur noch der Zweitjüngste. Das macht ihm zu schaffen, erzählen seine Eltern. Er läuft weg, versteckt sich nervös hinter einem Baum. Wenige Minuten später hält er Alpaka Fritz an der Leine, seine Brüder tun es ihm gleich und übernehmen die Obhut über Lars und Fibo. Und plötzlich: Stille. Papa Thomas beschreibt sichtlich überrascht seine Beobachtungen: „In der Sekunde, als sie bei den Tieren waren, sind meine Jungs ruhiger geworden. Das könnten wir jetzt mit einem DB-Messgerät messen. Heute Morgen und bis vor Kurzem waren sie noch sehr aufgeregt, laut und turbulent. Jetzt sind sie sehr entspannt. Ich glaube, sie sind genauso beeindruckt wie ich.“
Besonnen, beliebt und flauschig
Alpakas gehören zur Familie der Kamele und stammen ursprünglich aus den Anden in Südamerika. Längst sind sie auch in Österreich heimisch und werden vor allem ihrer flauschigen Wolle wegen gezüchtet. Gabriele Horvat hält fünf Alpakas auf einer Weide in Karlstetten in Niederösterreich, die „Lichtpunkt Alpakas“ – sie schätzt vor allem den äußerst besonnenen Charakter der Tiere: „Alpakas strahlen eine ganz besondere Ruhe aus, die auf den Menschen übergeht. Man bekommt das Gefühl, dass Sorgen, Stress und Belastungen im Alltag einfach abfließen, sobald man den Tieren nahe kommt. Das war der Grund, warum ich mich in Alpakas verliebt habe.“ Als Lebensberaterin und Energetikerin habe sie oft mit Menschen zu tun, die derartige Belastungen im Alltag erleben. So sei sie auf die Idee gekommen, ihre guten Erfahrungen mit Alpakas künftig mit ihren Klienten zu teilen, erzählt sie. Seit rund einem Jahr bietet Gabriele Horvat gemeinsam mit ihrer Tochter Laura tiergestützte Freizeitaktivitäten im Beratungs- und Coachingbereich an. Oder als Wandertage für Schulklassen. Oder eben als Familienausflug an einem sonnigen Samstagnachmittag – wie jener mit Familie Aigner.
INFO: Tiertherapie
Die Arbeit mit Tieren wird in vielen Disziplinen angewendet, darunter in der Psychotherapie, der Pädagogik, der Psychologie oder der Lebensberatung. „Tiergestützte Interventionen“ sind der Sammelbegriff für diese Arbeit. Die Verwendung des Begriffs „Therapie“ ist zwar nicht gesetzlich geregelt, aber dennoch heikel, da sie eng mit dem Hauptberuf und damit mit einer spezifischen Ausbildung verbunden ist. Die Europäische Gesellschaft für tiergestützte Therapie (ESAAT) definiert sie so: „Tiergestützte Therapie“ umfasst bewusst geplante pädagogische, psychologische und sozialintegrative Angebote mit Tieren für Kinder, Jugendliche, Erwachsene wie Ältere mit kognitiven, sozial-emotionalen und motorischen Einschränkungen, Verhaltensstörungen und Förderschwerpunkten. Sie beinhaltet auch gesundheitsfördernde, präventive und rehabilitative Maßnahmen.“
Die Wirkung der Tiere auf den Menschen erklärt Helga Widder, Geschäftsführerin des Vereins „Tiere als Therapie“ mit der Biophilie-Hypothese von Edward O. Wilson: „Wir sind ein Teil der Natur und als solcher auch eingebunden in den Kreislauf der Natur. Das sorgt für eine instinktmäßige Verankerung und eine sehr enge, unterbewusste Verbindung mit Prozessen, die den Fluss der Natur darstellen.“ So ist die tiefe, unterbewusste Kommunikation zwischen Mensch und Tier zu erklären. „Damit diese tiergestützten Interventionen funktionieren, muss eine innige Verbindung zwischen dem Tierhalter und seinem Tier bestehen. Man muss einander blind verstehen und blind vertrauen, dann kann man auch andere Menschen in diese Beziehung einbauen.“
Tiergestützte Interventionen werden in Österreich von einzelnen privaten Institutionen gefördert, aber nicht von der Krankenkasse bezahlt. Für Helga Widder wäre das ein wichtiger Punkt: „Wenn man sich ansieht, was für Erfolge das bei gleichzeitig null Nebenwirkungen hat, sollten tiergestützte Interventionen noch viel öfter eingesetzt werden.“
Tiere spiegeln Stimmungen
Der fünfjährige Tim hält Alpaka Fritz immer noch, spaziert mit ihm über einen Feldweg durch die hügelige Landschaft um Karlstetten. Warum gerade Fritz, frage ich ihn. „Ich hab mir den Fritz ausgesucht, weil ich gespürt habe, dass er mein Freund ist. Außerdem hat er so ein schönes, weißes, kuscheliges Fell.“ Der anfänglich skeptische Blick ist einem zufriedenen, selbstsicheren gewichen. „Er folgt mir auf den Fuß. Schau, ich hab ‚komm‘ gesagt und er kommt“, schwärmt Tim. Das ist nicht immer so, denn Alpakas sind sehr feinfühlig, nehmen die Stimmung wahr, die ihnen ihr menschlicher Begleiter entgegenbringt und spiegeln sie. Laura Horvat, die Tochter von Gabriele, hat das schon oft beobachtet: „Je liebevoller und respektvoller der Umgang mit den Tieren ist, desto aufmerksamer, gelassener und besser zu führen sind sie.“ Der Umkehrschluss: Unsicherheiten, Angst oder negative Stimmungen werden ebenso gespiegelt. Dann kann es schon einmal passieren, dass das Alpaka einfach stehen bleibt und gar nichts mehr tut. „Wenn Kinder besonders impulsiv sind und meinen, ihre Ellbogen ausfahren zu müssen, dann funktioniert das vielleicht bei den Mitschülern, aber nicht bei den Tieren. Die erkennen in der Rumpelstielzchenmanier nämlich vor allem eines: Unsicherheit.“
Wertfreie Tiere, selbstbewusste Kinder
Für Kinder ist es daher ein besonderes Erfolgserlebnis, die Harmonie mit dem Tier zu spüren. „Die Tiere sind unvoreingenommen und werten nicht“, erklärt Gabriele Horvat, „sie behandeln ein verhaltensauffälliges Kind genauso wie jedes andere. Im zwischenmenschlichen Bereich sind Kinder oft Vorurteilen oder Erwartungshaltungen ausgesetzt, Alpakas hingegen spiegeln nur den IST-Zustand. Die Wertfreiheit der Tiere wird als Grundstimmung übernommen. Wenn jetzt ein Kind, das sonst Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen hat, in der Interaktion mit dem Tier Erfolg hat, kann es viel Selbstvertrauen gewinnen. Und das kann sich dann auch auf ganz andere Bereiche auswirken, wie beispielsweise den Lernerfolg in der Schule.“
Apropos Schule: eine interessante Geschichte erzählt auch die Hauptschullehrerin Ilse Schindler, die mit ihrer Klasse und den „Lichtpunkt Alpakas“ von Familie Horvat einen Wandertag gemacht hat: „Ein Bursche, sonst sehr unruhig und ziemlich schnell aufbrausend, war mit einem der Alpakas unterwegs. Es ließ sich kaum von jemandem streicheln und wich mit seinem langen Hals unseren Berührungsversuchen immer wieder aus. Nur dieser Bursche durfte endlos lange seinen Hals streicheln und halten. Er war sehr stolz und glücklich über die Tatsache, dass er bei dem Tier so willkommen war. Das erlebt er sonst nämlich nicht so häufig.“
Mehr Gefühl für die Bedürfnisse anderer
Während Tim sich freut, von Fritz „schon das vierte Bussi“ bekommen zu haben, übernimmt Thomas Aigner, der Familienvater, die Leine von Alpaka Lars. „Spucken die eigentlich?“, fragt er aufmerksam. „Nur, wenn man sie ganz besonders ärgert. Oder wenn sie Machtspiele untereinander ausfechten, dann sollte man nicht unbedingt dazwischen stehen“, antwortet Laura.
Auch auf Erwachsene haben Alpakas eine besondere Wirkung. Thomas Aigner ist selbst Psychologe und hat eine Theorie parat: „Ich sehe durch die Begegnung mit dem Tier die gewaltfreie, die bedürfnisorientierte Kommunikation gefördert. Man lernt, auf die Bedürfnisse des Tieres Rücksicht zu nehmen, darauf einzugehen. Tut man das nicht, kommt man bei den Tieren nicht weit. Dadurch schult man sein Gefühl für die Bedürfnisse anderer. Das lässt sich auch auf den Umgang mit Menschen übertragen.“
Beruhigungsmittel Alpaka
Eine berührende Beobachtung mache ich bei einem Sonntagsspaziergang mit den „Lichtpunkt Alpakas“ und der syrischen Flüchtlingsfamilie Hussein (Name geändert). Ein Hubschrauber kreist über der Sommerlandschaft von Karlstetten. Die achtjährige Farah erschrickt, duckt sich, schaut mit ängstlichem Blick zwischen dem Fluggerät und Papa Kaled hin und her. Der spricht ein paar beruhigende Worte auf Arabisch und klärt auf: „In Syrien hat sie gesehen, wie von einem Hubschrauber eine Fassbombe abgeworfen worden ist. Viele Menschen sind dabei gestorben. Sie hat Angst, alleine schon vor dem Geräusch.“
Aber nicht lange, ihr Blick schweift wieder zu Alpaka Fritz, dessen Leine sie hält. Das Tier sieht Farah mit langem Hals und neugierigen Augen an, gibt ein leises, charakteristisches Summen von sich – als hätte es den plötzlichen Stimmungswandel wahrgenommen. Papa Kaled ist überrascht: „So schnell hat sie sich noch nie entspannt. Das Spazierengehen mit den Alpakas beruhigt sie sehr. Ich glaube, das öfters zu machen, könnte ihnen helfen, die Ängste zu vergessen, die sie aus Syrien mitgebracht haben.“