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Vegan: Welternährung gänzlich ohne Tierleid?

Philipp ist 30 Jahre alt, einen Meter achtzig groß, ein echtes Muskelpaket und sehr stolz auf seinen Körper. Neben Sport und intensivem Gewichtstraining hat auch proteinreiches Fleisch dazu beigetragen aus Philipp zumindest optisch einen Modellathleten zu machen. Am ersten Jänner dann der totale Umschwung. Vegan!

Von einen Tag auf den anderen. Was war passiert? Als Journalist vor allem am Land unterwegs, gehören Reportagen von Höfen und Hintergrundberichte über die Landwirtschaft zu seinem täglichen Geschäft. Doch nicht alles, was er sieht, darf er seinen Fernsehzuschauern zeigen. Zu blutig, die Bilder aus den Schlachthöfen, zu schrill, die Schreie der exekutierten Tiere, zu belastet, die Fische vom Grund der Nord- und Ostsee. Doch die Bilder bleiben im Kopf. Unauslöschlich. Grund genug vegan zu werden?

Du sollst nicht töten

Das fünfte Gebot beziehen überzeugte, vegane Tierfreunde auf alle Lebewesen, nicht nur auf Menschen. Selbst Produkte für die scheinbar kein Tier getötet werden muss, wie Eier und Milch, tauchen auf ihrer veganen Speisekarte nicht mehr auf. Wirklich auf tierische Produkte zu verzichten bedeutet aber dieses Prinzip auf andere Bereiche wie Kleidung und Kosmetik anzuwenden. Schuhe aus Leder sind verpönt, Wolle wird gemieden und Kosmetika, die mittels Tierversuchen getestet wurden, oder tierischen Bestandteile enthalten, werden boykottiert. Nur das ist wirklich ganz vegan.

Kein Zweifel, vegan zu leben, hilft nicht nur den Tieren, sondern unserem Planeten insgesamt. Beschlösse die Menschheit, auf die Nutzung von Tieren zu verzichten, unsere Welt könnte sprichwörtlich aufatmen. Kaum vorstellbare 65 Milliarden Nutztiere werden weltweit jährlich produziert. Sie kauen und verdauen und produzieren dabei Unmengen von Methan, einem klimaschädlichen Treibhausgas. Zusammengenommen führen all diese Faktoren dazu, dass die Belastung der Erdatmosphäre durch Fleisch- und Fischkonsum deutlicher höher ist, als die durch den weltweiten Straßenverkehr.

Zwar schwanken die Berechnungen darüber, für wie viel Prozent der Treibhausgas-Emissionen die weltweite Fleischproduktion am Ende verantwortlich ist. Nach manchen sind es 12,8, andere kommen auf 18 oder gar mehr als 40 Prozent.

Wachsende Lust auf Fleisch

Auch die Lunge der Erde, der Amazonas, hätte noch eine Chance, wenn die Rodungen für Weideland gestoppt würden. Doch immer mehr Vieh braucht immer mehr Land. Allein in Brasilien hat sich die Zahl der Rinder zwischen 1961 und 2011 auf mehr als 200 Millionen vervierfacht.
Wo der Wohlstand wächst, wächst die Lust auf Fleisch: 1990 betrug der Fleischkonsum 150 Millionen Tonnen, 2003 schon 250 Millionen Tonnen und 2050 schätzungsweise 450 Millionen Tonnen, mit katastrophalen Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung der Welt. Denn die 16 Milliarden Hühner, 1,5 Milliarden Rinder und eine Milliarde Schweine, die, nur um gegessen zu werden, kurzzeitig auf unserer Erde weilen, brauchen Futter, viel Futter. Dabei wird schon jetzt mehr als ein Drittel allen Getreides der Welt verfüttert. Hinzu kommt, dass der Klimawandel zu Dürren in den bisher so ertragreichen Regionen der USA führt. Äßen weltweit alle Menschen so viel Fleisch wie wir Österreicher und Deutschen, bräuchten wir schon jetzt mehrere Planeten nur für Futter- und Weideflächen.

Vegan: Weniger belastet, auch gesünder

Der Verzicht auf die kommerzielle Tierzucht würde den Ausbruch von grenzüberschreitenden Seuchen wie Schweinepest und BSE (Bovine spongiforme Enzephalopathie oder Rinderwahn) eindämmen und Lebensmittelinfektionen, die durch Bakterien verursacht werden, könnten reduziert werden. Auch die verheerenden EHEC-Infektionen (Enterohämorrhagische Escherichia coli, löst blutige Durchfallerkrankung aus) vor zwei Jahren in Deutschland, die 53 Menschen das Leben kosteten, sind am Ende wohl auf Viehexkremente zurückzuführen, die als Dünger auf die Felder gelangten. In vielen Landkreisen Deutschlands ist die Belastung des Grundwassers mit Nitrat schon jetzt bedenklich. Doch die Überdüngung der Felder mit Gülle nimmt weiter zu.

Tierhaltung geht außerdem mit einer großen Verschwendung von Kalorien, Proteinen und anderen Nährstoffen einher. Der Grund ist, dass die Tiere den größten Teil der ihnen zugeführten Nährstoffe selbst verbrennen. Die Produktion einer tierischen Kalorie kostet momentan mehr als drei pflanzliche Kalorien. Eklatant ist die Vernichtung von tierischen Leben selbst dort, wo viele es auf den ersten Blick nicht vermuten; zum Beispiel bei der Ei-Produktion. Nur die weiblichen Nachkommen der Legehennen produzieren neue Eier, ihre Brüder nicht. Sie haben auch zu wenig Muskelmasse, um als Fleischlieferant für die Züchter kommerziell interessant zu sein. Also werden sie bei lebendigem Leib zerhackt, oder vergast. Auf jede Legehenne kommt so noch ein toter Bruder. Und allein in Deutschland gibt es um 36 Millionen Legehennen.

Bedrohte Fischarten

Vegan zu leben bringt auch den Wasserbewohnern viel: Meere und Ozeane könnten sich erholen, wenn wir den Tieren nicht mehr nachstellen würden. 100 Millionen Tonnen Fisch werden jährlich aus dem Meer geholt, effizient und industriell, mit fatalen Folgen. Die Liste der bedrohten Arten ist lang: Alaska-Seelachs, Dorade, Heilbutt, Hummer, Kabeljau, Lachs, Makrele, Rotbarsch, Sardine, Scholle und Schellfisch, Seezunge, Steinbeißer, Thunfisch, Wolfsbarsch und Zander. Und dieses ist nur ein Auszug aus der roten Liste. Fast alle Arten könnten doppelt bis dreimal so groß werden, wie sie bei uns auf den Tellern landen, doch sie werden aus dem Wasser gezogen, lange bevor sie ausgewachsen sind. Nach Berechnungen des UN-Umweltprogramms ist spätestens 2050 Schluss damit, denn dann ist keine kommerzielle Befischung mehr möglich. Game over, es sei denn wir zügeln unseren Appetit, oder steigen um auf vegane Kost.

Wenigstens hat die EU inzwischen verfügt, dass Fischer ab dem nächsten Jahr „nur noch“ fünf Prozent Beifang machen dürfen. Also Meerestiere an Deck holen, die sie eigentlich gar nicht töten wollten. Noch dürfen es bis zu 30 Prozent sein. Bei der Einstellung der Fischerei würden sich nach Meinung von Experten fast alle Arten in einigen Jahren wieder erholen. Flora und Fauna im Meer würden auch deshalb profitieren, weil keine Grundschleppnetze mehr den Meeresboden durchpflügten und so die Lebensgrundlage vieler Kleinlebewesen zerstören, die wiederum die Nahrungsgrundlage vieler Fische sind.

Folgen eines radikalen Ausstiegs

Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, die industrielle Tierwirtschaft und Fischerei wird unser aller Lebensgrundlagen zerstören, wenn wir die Entwicklung der vergangen 50 Jahre einfach fortschreiben. Doch komplett auf vegan umzusteigen ist zu kurz gedacht. Ein radikaler Ausstieg diesem System hätte aber auch grundlegende ökonomische Folgen. Vor allem stünden Vieh- und Geflügelzuchtunternehmen vor dem Aus. Tiertransporteure, Schlachthäuser müssten schließen. Allein in der deutschen fleischverarbeitenden Industrie gingen, nach Zahlen aus dem Jahr 2011, mehr als 80.000 Arbeitsplätze mit einem Jahresumsatz von 31,4 Milliarden Euro verloren.

Stattdessen würde die chemische Industrie boomen. In einer veganen Welt – ohne die Nutzung von Tieren – hätte die Chemie eine noch größere Bedeutung als heute. Wo auf Leder und Wolle verzichtet wird, kommen Kunstleder und Mikrofasern zum Einsatz, denn auch Baumwolle ist kein undenklicher Ersatz. Sie ist eine sehr durstige Pflanze, die immer häufiger auch dort angebaut wird, wo Wasser ohnehin schon knapp ist, wie beispielsweise in Ägypten.
Vegan-Kritiker werfen ein, dass bei rein pflanzlicher Ernährung die Bevölkerung vor Mangelerscheinungen bewahrt werden müsse. Es drohe eine Unterversorgung mit dem lebenswichtigen Vitamin B12. Da dieses Vitamin fast ausschließlich in tierischen Produkten zu finden ist, müssen es strenge, vegan Lebende über Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen.

Kurt Schmidinger von Future Food Österreich hat in einer Studie einen Weg aufgezeigt, wie dieses problemlos zu organisieren wäre. Voraussetzung dafür wäre, dass Staat und Industrie mitziehen. Analog zur Anreicherung von Salz mit Jod, könnten dann anderen Lebensmitteln künstlich erzeugte Vitamine und Mineralien hinzugefügt werden. Allerdings ist zu bedenken, dass beispielsweise die industrielle Herstellung von Vitamin B12 hauptsächlich mit Hilfe von gentechnisch veränderten Mikroorganismen erfolgt. Nicht jeder wird das begrüßen.
Andererseits würde durch die Anreicherung der Einzelne davon entbunden, selbst ständig auf die ausreichende Zufuhr dieser Vitamine und Mineralien achten zu müssen. Dadurch würden eventuell weitere Menschen auf tierische Produkte verzichten und ins Vegan-Lager wechseln, was wiederum die Nahrungsmittelindustrie dazu animieren würde, der größeren Zielgruppe ein noch größeres Warenangebot zu machen. Die stärkere Nachfrage und ein besseres, veganes Angebot führen zu günstigeren Preisen, die wiederum die Nachfrage stimulieren. Ein sich selbstverstärkender Kreislauf. Ernährten sich dann irgendwann alle vegan, wären unsere Spitäler halb leer, denn Krankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen, Typ 2 Diabetes, einige Krebsformen, Osteoporose, Multiple Sklerose und Gallensteine würden bei dieser Ernährung deutlich seltener auftreten.

„Wenn Schlachthäuser Wände aus Glas hätten, wären alle Vegetarier.“

Paul McCartney

Schöne neue Welt

Doch wie kommen wir dahin? Ein staatliches Verbot des Verzehres von tierischen Produkten kommt kaum in Frage. Zu groß die Macht der Nahrungsmittelindustrie, zu groß die Angst, vor Arbeitsplatzverlusten. Außerdem würde bei einem Verbot schnell ein Schwarzmarkt für Fisch, Fleisch, Eier und Käse entstehen.
Es geht nur sehr langsam. Und mit den Kindern fängt es an. „Gesunde Ernährung“ sollte eigentlich obligatorisches Unterrichtsfach werden und den gleichen Stellenwert haben wie Mathematik und Physik. Paul McCartney hat den Satz geprägt: „Wenn Schlachthäuser Wände aus Glas hätten, wären alle Vegetarier.“ Diesen Gedanken aufnehmend, sollten Kinder Schulausflüge in Schlachthäuser machen, natürlich nur psychologisch begleitet. Denn nur, wenn sie erleben, wie Tiere getötet werden, können sie sich wirklich frei entscheiden, ob sie tatsächlich Tiere essen wollen.
Ernährungsbedingte Krankheiten sind im Westen für zwei Drittel alles Todesfälle ganz oder teilweise verantwortlich. Eigentlich müsste das Bundesministerium für Gesundheit eine breitangelegte Kampagne starten, um für vegane Ernährung zu werben. So ließe sich ein großer Teil der mehr als elf Milliarden Euro Gesundheitskosten in Österreich einsparen.

„Ich finde es nicht richtig Menschen danach zu beurteilen, was sie essen. 52 Prozent der Menschen in Österreich versuchen ihren Fleischkonsum zu reduzieren. Das freut mich natürlich, weil es gut für Umwelt und Tierschutz ist“

Felix Hnat, Vegane Gesellschaft Österreich, über den Vegan-Trend

Der Westen kaut vor, was die Welt isst

Noch nimmt der Fleischkonsum zu. Nicht in Europa oder Nordamerika, hier stabilisiert er sich auf sehr hohem Niveau, aber in den aufstrebenden Ländern, vor allem in Asien, stehen Steaks und Burger für einen Way of Life, der vielen Menschen offensichtlich sehr erstrebenswert erscheint. Menschen müssen überzeugt werden, wenn sie ihre Essgewohnheiten verändern sollen, durch Argumente und Vorbilder. Felix Hnat, Obmann der Veganen Gesellschaft Österreich versucht eines zu sein. Er setzt auf fröhliche Aktionen und beispielhaftes Vorleben. „Ich habe selbst achtzehn Jahre lang sehr gerne und sehr viel Fleisch gegessen. Auch viele meiner besten Freunde und Familienmitglieder essen Fleisch. Ich finde es nicht richtig Menschen danach zu beurteilen, was sie essen. 52 Prozent der Menschen in Österreich versuchen ihren Fleischkonsum zu reduzieren. Das freut mich natürlich, weil es gut für Umwelt und Tierschutz ist.“

Veganer Wirtschaftstrend

Und auch einige große Konzerne springen auf den Vegan- und Tierschutztrend auf. So verkündete der Verbrauchsgüter-Konzern Unilever Anfang September, verstärkt nach veganen Ei-Alternativen suchen zu wollen. Auch die Entwicklung der Geschlechterfrüherkennung im Ei will das britisch-niederländische Unternehmen nach eigenem Bekunden unterstützen. Wenn Unilever es wirklich ernst mein, muss es nach pflanzlichen Alternativen zum Hühnerei nicht lang suchen. In Kufstein hat die Firma MyEy ihren Sitz, die ein Produkt herstellt, das ein rein pflanzlicher Ersatz für Hühnereier sein soll. Das vegane Produkt besteht hauptsächlich aus Maisstärke, Kartoffel- und Erbseneiweiß, sowie Lupinenmehl. Es wird in 200 Gramm Dosen um 9,90 Euro angeboten. Eine Dose soll 24 Eiern entsprechen. Damit kostet das Pulveräquivalent etwas mehr als 41 Cent pro Ei – zu teuer für den Einsatz in industrieller Produktion. Doch mit diesem Produkt könnten Millionen Hühnerleben gerettet werden.

Seit Juni umschmeichelt Starbucks die fleischverschmähende, vegane Kundschaft mit einem speziellen Angebot: ein rein veganes Ciabatta mit Avocadocreme. Und selbst McDonald‘s stellt sich auf den Trend ein und eröffnete schon 2011 sein erstes vegetarisches Restaurant in Paris. Wenn immer mehr Menschen im Westen zu veganen Alternativen greifen, geht vielleicht auch dieser Trend eines Tages um die Welt.

Geschrieben von Jörg Hinners

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