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Minimalismus – auf das Maximum reduziert

Sobald es finster ist, können wir los. Was wir vorhaben, würde bei Tageslicht mehr Aufmerksamkeit erregen und auf so manchen verstörend wirken. Außerdem sollten die Supermärkte geschlossen sein, wenn wir deren Mülltonnen nach Essbarem durchsuchen. Für Martin Trümmel ersetzt das „dumpster diving“ mittlerweile den Großteil seiner Lebensmittel-Einkäufe. Nicht, weil er es sich anders nicht leisten könnte. Sondern weil ihm Konsum, Überfluss und Verschwendung als gesellschaftliches Dogma einfach zu viel geworden ist. „Beim Dumpstern hinterlasse ich keine Spuren mehr“, erklärt Martin, „Was ich dort nehme, ist bereits draußen aus dem Markt. Ich generiere also keine zusätzliche Nachfrage und das ist mir sehr wichtig. Die leidliche Überproduktion in unserer Gesellschaft ist ein Horror.“

Dumpstern als Schatzsuche

Sein Bruder Thomas setzt sich zu uns an den Tisch. Durch ihn ist Martin zum Dumpstern gekommen. Auch für Thomas ist der regelmäßige Ausflug auf die Hinterhöfe der Nahversorger ein politisches Statement gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. „Es ist wie eine Schatzsuche. Erst gestern habe ich Lebensmittel im Wert von circa 150 Euro mit nachhause genommen, vieles davon war noch nicht einmal abgelaufen“, erzählt Thomas. „Wenn die halbe Tonne voll ist mit gutem Essen, freue ich mich darüber. Aber eigentlich ist das sehr traurig.“
Nummer drei jener Menschen, die diesen Artikel mit Leben füllen sollen, ist Martin Løken, 28, Norweger. Ich habe ihn vor vier Jahren auf einer Reise in Bangkok kennengelernt – seinen Lebensstil halte ich für beeindruckend und darum erzählenswert.

Dumpstern, oder auch Containern und Mülltauchen, bezeichnet das Sammeln von weggeworfenen Lebensmitteln.
In Österreich werden pro Person jährlich Lebensmittel im zweistelligen Kilogrammbereich weggeschmissen, die eigentlich noch genießbar wären. Diese Angabe ist natürlich ein Durchschnittswert, gerechnet auf alle Einwohner, egal ob sie verschwenderisch oder nachsichtig mit Essen umgehen, aber es ist ein alarmierender Wert.
Es geht nicht nur Produkte, die “knapp drüber” sind, bei denen also das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, die von privaten Haushalten aus im Müll landen. Von noch größeren Ausmaß ist die Menge an Lebensmitteln, die von Supermärkten direkt in den Müll anstatt zum Verbraucher wandern.
Was auf den ersten Blick nach einem einfachen Konzept klingt – man nimmt sich, was ohnehin entsorgt wurde, verschwendet weniger, reduziert Müll, schätzt Nahrung wert – ist rechtlich gesehen ein umstrittenes und kontrovers diskutiertes Thema. Denn Müll bedeutet nicht, dass sich ein Bedürftiger automatisch über selbigen mit dem Argument, dass dieser ja ohnehin entsorgt werde, hermachen kann. Auch aus pragmatischen Gründen, denn Rechte und Pflichten von Müllproduzenten und Entsorgen sind zum Beispiel in Deutschland klar geregelt. In Österreich ist die Rechtsprechung zumindest in dieser Hinsicht zwar etwas weiter gefasst und das “Klauen” von Müll nicht per sé verboten.
Weitere Informationen unter www.dumpstern.de

Minimalismus: Besitz braucht Zeit

„All unser Besitz erfordert unsere Zeit. Und unsere Zeit ist meiner Meinung nach das Wertvollste, das wir haben. “
Martin Løken, 28

Auch Martin Løken weiß, wie man Essen aus dem Müll holt – auch ihn habe ich schon einmal dabei begleitet. Seine bevorzugte Art des Reisens ist das „hitchhiking“, das Autofahren per Anhalter – und weil er das schon sehr oft gemacht hat, hat er Freunde in ganz Europa, die ihm eine Couch anbieten, wenn er mal vorbeischaut. Vor kurzem hat Martin Løken beinahe alles verkauft oder hergeschenkt, was er besessen hat. Sein Auto, seine Wohnung, Alltagsgerümpel. Noch nie hat er sich so frei gefühlt wie jetzt: „All unser Besitz erfordert unsere Zeit. Und unsere Zeit ist meiner Meinung nach das Wertvollste, das wir haben. Gleichzeitig zerstören wir mit dem Besitzdenken unserer westlichen Gesellschaft die Ökosysteme unserer Erde, unsere eigene Lebensgrundlage – und entziehen der Welt Ressourcen für künftige Generationen.“

Minimalismus: Verzicht als Luxus

„Der Verzicht ist für mich zum Luxus geworden – und das macht mich glücklich.“
Martin Trümmel, 28

Verzicht statt Verschwendung, Minimalismus statt Überfluss – ein Lebensstil, der vor allem bei jungen Menschen immer mehr Anklang findet. Martin Trümmel ist 28 Jahre alt, als Geschäftsführer im öffentlichen Dienst verdient er gut, könnte sich vieles leisten. Tut es aber nicht mehr: „Am Anfang hatte ich eine Liste. Alles, was ich mir kaufen wollte hab ich da drauf geschrieben. Wenn ich es nach einem Monat immer noch wollte, habe ich es gekauft. So habe ich mir bewusst gemacht, wie viel Geld ich früher für Dinge ausgegeben habe, die ich eigentlich gar nicht brauche. Der Verzicht ist für mich zum Luxus geworden – und das macht mich glücklich.“ Das bedeutet freilich nicht den totalen Verzicht. „Einige meiner Ansprüche sind drastisch gesunken, andere deutlich gestiegen. Dafür gebe ich auch gerne Geld aus – zum Beispiel für ein neues Paar Ski. Oder für Reisen. Ich gebe weniger aus für Dinge, die mir wurscht sind und mehr für das, was mir wirklich wichtig ist.“

Minimalismus: Einfach und flexibel

Die Wirtschaftsforschung nennt Menschen wie Martin Trümmel und Martin Løken „voluntary simplifiers“, die bewusst und freiwillig ihren Konsum reduzieren. Till Mengai von der Wirtschaftsuniversität Wien beschäftigt sich mit nachhaltigem Konsum und Anti-Konsumforschung und beobachtet den Trend zum Minimalismus zunehmend auch in Österreich: „Das große Auto und die teure Uhr als Zeichen von Prestige und Status werden unwichtiger. Die Erfahrungen, die man macht werden wichtiger als die Gegenstände zu besitzen, mit denen man diese Erfahrungen macht. Dennoch spielte Besitz bisher eine identitätsstiftende Rolle und hat damit auch eine wichtige Funktion. Doch es geht darum, wie wir definieren, was wir sind. Und dann kann auch der Verzicht identitätsbildend sein.“ Minimalismus als Lebensphilosophie umfasst ein breites ideologisches Spektrum: Von jenen Menschen, die ihren Konsum regelmäßig hinterfragen bis hin zu den totalen Konsumverweigerern. Eines ist beiden gemein: Zu viel Besitz empfinden sie als Belastung. Minimalisten suchen das einfache, überschaubare und gute Leben mit viel Flexibilität.

Minimalismus: Die komplexe Welt überschaubarer

Der Vermögens- und Reichtumsforscher Thomas Druyen von der Sigmund Freud Privatuniversität Wien hat gegenüber der deutschen Zeitung „Die Zeit“ erwähnt, er halte „den Minimalismus für einen Gegentrend zum allgemeinen Überfluss in unserer Gesellschaft.“ Und die Wirtschaftskrise macht seit nunmehr sieben Jahren darauf aufmerksam, wie wenig nachhaltig das ständige Streben nach immer mehr Gewinn ist und wie vergänglich Wohlstand sein kann. Die Zukunftsforscherin Christiane Varga vom Wiener Zukunftsinstitut sieht im Minimalismus vor allem den Wunsch nach einer Reduktion von Komplexität im Alltag: „Jeden Tag sind wir konfrontiert mit einer Vielzahl von Möglichkeiten, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Das Leben ist komplex geworden. Vielen wird das zu viel, die bewusste Entscheidung für weniger Konsum macht den Alltag wieder überschaubarer.“

Minimalismus: Teilen statt besitzen

Wie salonfähig die Reduktion von Eigentum mittlerweile geworden ist, liest Till Mengai auch an der steigenden Beliebtheit von Angeboten in der sogenannten „shared economy“ ab – Stichwort Carsharing oder Ferienwohnungsvermittler wie AirBnB. Und im Sinne einer „collaborative consumption“ wird es künftig auch bei Alltagsgegenständen zunehmend darum gehen, zu tauschen und zu teilen, anstatt zu besitzen: „Ab und an braucht jeder einen Akkuschrauber. Doch stellen sich viele die Frage, warum man etwas besitzen muss, das man nur wenige Stunden im Jahr tatsächlich braucht“, resümiert Mengai.

Auch Martin Trümmel hat sich diese Frage gestellt – und teilt Rasenmäher, Akkuschrauber und Co seither mit den Nachbarn: „Man ist sich oft zu bequem, Sachen zu teilen, drum kauft man sich so vieles. Dabei könnte man so viele Ressourcen sparen, so viel Geld und Energie. Irgendwer hat, was ich brauche und borgt es mit Freude her, weil er weiß, dass es jetzt auch jemand anderes gebrauchen kann. Zehn Häuser rundherum und jeder hat einen eigenen Rasenmäher. Das ist doch bullshit.“

Teilen und Share Economy

Der Begriff Share Economy wurde von dem Harvard-Ökonomen Martin Weitzman geprägt und besagt im Kern, dass sich der Wohlstand für alle erhöht, je mehr unter allen Marktteilnehmern geteilt wird. Unter dem Begriff „Share Economy“ entwickeln sich zunehmend Unternehmen, deren Geschäftskonzept gekennzeichnet ist durch die gemeinsame zeitlich begrenzte Nutzung von Ressourcen, die nicht dauerhaft benötigt werden. Im deutschsprachigen Raum wird auch der Begriff Kokonsum (Abkürzung aus Kollaborativer Konsum) verwendet.
Die neuesten Trends in Sachen Teilen bringt die Webseite www.lets-share.de.

Minimalismus: Weniger Arbeit für weniger Geld

Seit Martin Trümmel rund 70 Prozent weniger für „bullshit“ ausgibt, spart er Geld in Mengen, die er zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Damit ergibt sich eine logische Konsequenz: Weniger Konsum bedeutet weniger Besitz, zum einen. Zum anderen aber bedeutet das für viele auch und vor allem eines: weniger arbeiten zu müssen – ein kaum zu überschätzender Gewinn an Freiheit und Flexibilität. Die Zukunftsforscherin Varga ortet einen Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft: „Der Wert der Zeit hat jenen des Geldes für viele Menschen längst übertroffen. Es geht immer mehr darum, seine Zeit sinnvoll zu verbringen – was früher die Philosophie von spirituell angehauchten Menschen war, ist heute ein Massenphänomen. Immer weniger sehen ein, warum sie so wahnsinnig viel Zeit in Arbeit investieren sollen, die einzig und allein dem Geldverdienen dient.“ Die Wirtschaft hinkt diesen Bedürfnissen noch hinterher. Zwar gibt es Initiativen einzelner Unternehmen wie die Vier-Tage-Woche oder ein Jahresarbeitszeitkonto, das mehr Flexibilität gewährleisten soll. Auch die Förderung des Home-Offices oder die Idee, dass sich zwei Menschen einen Job teilen, sind Versuche, die Bedürfnisse der Mitarbeiter nach mehr Flexibilität und Tagesfreizeit anzuerkennen. Für Teilzeitmodelle und geringere Arbeitszeiten entscheidet sich letztlich aber auch nur der, der es sich leisten kann. Und da haben Minimalisten einen entscheidenden Vorteil.

Minimalismus: Hühnersharing und Tauschgeschäfte

„Der Wert der Zeit hat jenen des Geldes für viele Menschen längst übertroffen. Es geht immer mehr darum, seine Zeit sinnvoll zu verbringen – was früher die Philosophie von spirituell angehauchten Menschen war, ist heute ein Massenphänomen.“
Christiane Varga, Zukunftsinstitut

Martin Trümmel reduziert seine Vollzeitanstellung demnächst auf 20 Wochenstunden. „Bei meiner Vollzeitbeschäftigung ist mir so viel Geld übrig geblieben, dass es eine Freude ist. Mit den Reserven komme ich jetzt für eine lange Zeit aus. Zusätzlich schaffe ich mir viel Raum für kreative Projekte, die mich glücklich und mein Leben besser machen.“ Dazu gehört ein Selbstversorgerhof, den er sich mit Freunden teilt: „Jeder baut etwas an oder züchtet Tiere, wie es ihm Spaß macht. Dann kommt alles in einen Topf und jeder nimmt sich, was er braucht. Ein Wechselspiel, von dem jeder profitiert.“ Sein Beitrag sind Hühner und Nandus, südamerikanische Straußenvögel mit sehr hochwertigem Fleisch, in Österreich kaum zu kriegen. Auch geschlachtet wird selbst. Martin Trümmel ist damit Teil einer Entwicklung, die unser Konsumverhalten in den nächsten Jahren prägen wird, wie Zukunftsforscherin Christiane Varga meint: „Tauschhandel und Selbstversorgung werden zunehmend wichtiger – man will wissen, was man isst. Vor allem junge und kreative Menschen finden dafür immer neue Möglichkeiten. Lebensmittel wie Brot werden wieder öfter selbst gemacht und mit den Tomaten des Nachbarn getauscht. Davon profitieren auch zwischenmenschliche Werte, die wieder in den Mittelpunkt rücken: die Pflege sozialer Kontakte und ein Interesse für sein Umfeld.“

Minimalismus: Mehr Zeit für die Persönlichkeit

Martin Løken kommt mit rund 6.000 Euro pro Jahr aus. Randnotiz: Norwegen ist um eine Ecke teurer als Österreich. Martin braucht nicht viel Geld für sein Leben. Die Abenteuer, die er erlebt, wären ohnehin nicht bezahlbar. Einige Jahre lang hat er vor Führerscheinneulingen in den norwegischen Oberstufen Vorträge über die Gefahren des Autoverkehrs gehalten. Halbjährlich. Die übrige Zeit hat er vor allem in Reisen investiert.

Seinen gut bezahlten Job hat er vor kurzem aufgegeben um sich anderen Projekten zu widmen: wie politischem Engagement in seiner Region, der Organisation von Selbsterfahrungscamps für Kinder, dem Bau eines Hauses, das so klein und ressourcenschonend sein soll, wie nur irgendwie möglich. Und, dem Reisen – und damit für Martin Løken ganz eng verbunden: der Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit. „Ich versuche, meine Komfortzone zu verlassen, so oft es nur geht. Mit jeder neuen Herausforderung wächst mein Rollenrepertoire und damit mein Selbstbewusstsein. Kein eigenes Haus, kein Auto und keinen richtigen Job zu haben, ist eine große Herausforderung, keine Frage – ich kann ihr mit meinem Rollenrepertoire aber adäquat begegnen: als Autostopper, Wildcamper, als soziales Chamäleon und als Couchsurfer.“

Minimalismus: Abenteuer statt Komfortzone

Ein Lebensstil wie jener von Martin Løken ist eine Abkehr von dem, was die meisten Menschen als Norm bezeichnen. Aber er kann auch inspirierend sein für alle, die sich nach mehr Freiheit, mehr Unabhängigkeit, mehr Abenteuern und mehr Lebensfreude sehnen. Bedürfnisse, die auch für Zukunftsforscherin Varga längst keine Einzelphänomene mehr sind: „Das Standardprogramm, das Standardleben ist für viele nicht mehr interessant. Was sie wollen, ist ein individuelles Leben, ganz nach ihren Vorstellungen gestaltet. Seine persönliche Komfortzone regelmäßig zu verlassen bringt Abenteuer im Alltag, Nervenkitzel und neue spannende Herausforderungen. Immer mehr Menschen wollen so ihre ganz eigene Geschichte schreiben.“
Überhaupt sind Geschichten wichtiger geworden. Auch jene hinter Produkten. Manufakturen sind in der Hochblüte, die Nachfrage nach Handwerksarbeit und Selbstgemachtem steigt und so auch die Bereitschaft, viel Geld für hochwertige Produkte mit einer guten Geschichte auszugeben, die man weitererzählen kann. So wird der Wunsch nach mehr Qualität und weniger Quantität in allen Lebensbereichen zur Grundidee des Minimalismus. Das kann man gut finden oder auch nicht. Zweifelsohne ist es einem nachhaltigen Umgang mit persönlichen und ökologischen Ressourcen zuträglich. Und kaum jemand in meinem Bekanntenkreis erzählt spannendere Geschichten als Martin Trümmel und Martin Løken.

Foto/Video: Shutterstock.

Geschrieben von Jakob Horvat

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