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Lobbying 4.0: Kampf um die Standards

Nicht nur Gesetze und internationale Abkommen eignen sich dafür unternehmerischen Interessen mehr Durchsetzungskraft zu verleihen. Auch technische Standards und Normen sind erfolgsversprechende Instrumente um ein Produkt oder Produktionsverfahren am Markt durchzusetzen und die Konkurrenz beiseite zu schieben.

Standards Lobbying

Für gelernte Betriebswirte ist das nichts Neues, lernt man über Standardkriege doch bereits in den ersten Semestern. Zur wahren Kunst wurden sie von den US-amerikanischen Ökonomen Carl Shapiro und Hal Ronald Varian in ihrem wegweisenden Artikel „The arts of standards wars“ erhoben, der im Jahre 1999 in der California Management Review erschienen ist. Darin beschreiben sie detailliert welche strategischen Vorteile es einem Unternehmen bringt, wenn technische Normen in ihrem Sinne formuliert werden und empfehlen eine Vielzahl an Strategien, die sich Manager zu eigen machen sollten. Eine davon besteht darin, sich in Normierungsgremien hinein zu reklamieren, um diese mit den eigenen Produkteigenschaften oder Produktionsverfahren soweit wie möglich in Einklang zu bringen. Schafft man es dabei gleichzeitig auch noch Produkte seiner Mitbewerber aus der Norm zu schieben, hat man sich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil gesichert.

„Ich würde sagen, dass die Einflussnahme auf technische Standards zum Kerngeschäft der Lobbyisten gehört, denn diese ermöglicht ihnen ganze Märkte zu kontrollieren, ihre Produktionsprozesse durchzusetzen und ihre Mitbewerber in Schach zu halten.“
Lobbying-Experte Martin Pigeon

Ene mene muh…

Bei Normungsprozessen geht es nicht nur um Funktionalität und Sicherheit. Es geht auch um Marktdominanz. Denn obwohl Normen theoretisch nur freiwillige Empfehlungen sind, erweisen sie sich in der Praxis oft als unumgänglich. Fällt ein Produkt oder ein Verfahren aus seiner betreffenden Norm heraus, erleidet das Unternehmen erhebliche Wettbewerbsnachteile. Es kommt schlichtweg an keine Aufträge mehr heran, die auf das geltende Normregelwerk Bezug nehmen.
„Ich würde niemals mit einem Unternehmen zusammenarbeiten, das nicht normgerecht baut oder nicht über die entsprechenden Zulassungen verfügt. Denn alle Verträge enthalten den Passus ‚den Normen entsprechend‘. Beim Bauen selbst kann man schon abweichen. Aber sollte es irgendwann zu einem Rechtstreit kommen, sind wir als Architekten voll haftbar – unabhängig davon ob ein Bauschaden mit der Abweichung überhaupt zu tun hat. Juristisch beziehen sich dann alle in erster Linie auf Normkonformität.“, so Bernd Pflüger von BUS Architekten.

…und raus bist Du!

Was es für einen kleinen Produktionsbetrieb bedeutet, wenn sich sein Produkt in keiner Norm wiederfindet, weiß Monica Nicoloso, Eigentümerin und Geschäftsführerin des Ziegelwerkes Pottenbrunn. Das Familienunternehmen stellte jahrzehntelang Rauchfangsysteme her und vertrieb sie mit einer Österreichisch Technischen Zulassung (ÖTZ). Bis im Jahr 2012 anstelle der ÖTZ eine BTZ (Bautechnische Zulassung) eingeführt wurde. Diese zu erlangen war für das kleine Unternehmen jedoch mit einem derartigen finanziellen Aufwand und Risiko verbunden, dass es schlichtweg keine Zulassung mehr erlangte. Das Resultat: „Wir produzieren heute nicht mehr. Ohne Zulassung nimmt kein Rauchfangkehrer mehr unsere Kamine ab. Und eine Mitarbeit an der Normung ist für uns aus Zeit- und Kostengründen nicht möglich“, so Frau Nicoloso. Eine hundertfünfzigjährige Firmengeschichte ging damit zu Ende.

Dass Normungsgremien über das Auf- und Ableben von Technologien und Firmen entscheiden können, weiß auch Martin Galler, geschäftsführender Gesellschafter der Firma Progal. Das Unternehmen ist darauf spezialisiert mittels elektrophysikalischem Verfahren Mauern trocken zu legen. Im Jahr 2014 erfuhr Galler rein zufällig davon, dass die Önorm B3355, welche Verfahren zur Trockenlegung von feuchtem Mauerwerk regelt, aktualisiert werden sollte. Daraufhin nahm er mit Austrian Standards Kontakt auf, wo man ihm riet gegen die Norm Einspruch zu erheben. Dies tat er und bewarb sich gleichzeitig auch um Aufnahme in der Arbeitsgruppe AG 207.03, die mit der Aktualisierung betraut war. Es folgte eine eineinhalbjährige Auseinandersetzung mit anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe, die versucht hatten sein elektrophysikalisches Verfahren aus der Norm auszuschließen. Dabei spielten sachliche Argumente kaum eine Rolle, wie letztendlich auch die Schlichtungsstelle des ASI feststellte. Hunderte Arbeitsstunden und zahlreiche Gutachten, Gegengutachten, Sitzungen und Schriftstücke später stand letztendlich fest, dass sein Trocknungsverfahren in der Norm belassen wird. Sein Conclusio: „Es wäre sinnvoll, wenn die staatlichen Stellen etwas mehr auf die Ausgewogenheit in den Normungsgremien achten und ihre Kommunikation verbessern würden. Schließlich erfuhr ich nur durch Zufall davon, dass unser elektrophysikalisches Verfahren Gefahr lief vom Markt gedrängt zu werden“.
Ein Blick auf die Zusammensetzung der besagten Arbeitsgruppe 207.03 illustriert die Problematik der vielfach vermissten Ausgewogenheit von Normungsgremien recht deutlich. Darin stehen zehn Hersteller jeweils zwei Anwendern, öffentlichen Institutionen und Forschungseinrichtungen gegenüber. In der Arbeitsgruppe 207.02, die sich mit der Normierung von Estrichen, Putz- und Mörtel befasst, ist das Verhältnis noch frappierender. Darin sitzen zehn Hersteller keinem einzigen Anwender, einem unabhängigen Experten und zwei öffentlichen Institutionen gegenüber um darüber zu entscheiden, was verkauft werden darf und was nicht.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Von den unerwünschten ökologischen Folgen so mancher Norm weiß Ernst Nöbl, pensionierter Kultur- und Umwelttechniker mit jahrzehntelanger Erfahrung in Normungsgremien zu berichten. Als Beispiel nennt er etwa die Europäische Norm für Kläranlagen, die unter anderem die Qualität des abfließenden Wassers regelt: „Die Norm gibt die Werte nur in Relation zum Zulauf an. Das Resultat ist, dass in Österreich ohne weiteres Kläranlagen vertrieben werden, deren Stickstoff- und Phosphatgehalt weit über dem gesetzlichen Maximalwert liegen“.
Aus seiner Sicht sollte dem Ingenieurwesen mehr Gewicht in den (Bau)Normungsgremien verliehen und Normen wieder zu ihrer ursprünglichen Funktion als freiwillige Empfehlungen zurückgeführt werden. „Die Firmen reißen sich um die Mitarbeit in Normungsgremien. Sie erlangen dadurch ja auch einen klaren Wettbewerbsvorteil. Planer und Ingenieure jedoch weniger. Für sie rechnet sich der Zeitaufwand nicht so sehr“, so Ingenieur Nöbl.

Ein Blick nach Brüssel

Da etwa 90 Prozent des in Österreich geltenden Normenwerks europäischen oder internationalen Ursprungs ist, kommt man um einen Blick in Richtung Brüssel nicht herum. Dort führen uns über 11.000 Lobbyfirmen immer wieder eindrucksvoll vor Augen, wie man sich beispielsweise in die EU-Pestizidverordnung, die EU-Datenschutzrichtlinie oder das Freihandelsabkommen TTIP „konstruktiv“ einbringen kann.
Demgegenüber steht – weltweit – ein einziges Konsortium von 40 Umweltschutzorganisationen, das die ökologische Verträglichkeit internationaler Standards und Normen prüft. ECOS (European Environmental Citizens Organisation for Standardisation) ist in insgesamt 60 technischen Komitees vertreten um sicher zu stellen, dass Umweltverschmutzung reduziert wird und dass Ressourcen- und Energieeffizienz systematisch Einzug in die Praxis finden. „In der EU sind wir eine von vier offiziell anerkannten Interessensgruppen, deren Teilnahme an Europäischen Standardisierungsprozessen von der EU auch unterstützt wird. Damit wird auf EU-Ebene kompensiert, dass zivilgesellschaftliche Interessensgruppen sowie Klein- und Mittelbetriebe in die nationalen Standardisierungsprozesse nicht systematisch eingebunden sind“, so ECOS.
Das Corporate Europe Observatory wiederum ist eine in Brüssel ansässige NGO, die die Arbeit der dortigen Lobbyisten mit Argusaugen bewacht und systematisch analysiert. Auf die Frage nach der Bedeutung von technischen Standards antwortet der Lobbying-Experte Martin Pigeon: „Ich würde sagen, dass die Einflussnahme auf technische Standards zum Kerngeschäft der Lobbyisten gehört, denn diese ermöglicht ihnen ganze Märkte zu kontrollieren, ihre Produktionsprozesse durchzusetzen und ihre Mitbewerber in Schach zu halten […] Wenn man ins Detail geht, erkennt man, dass die Lobbykriege um Regulierungen eine absolut zentrale Komponente des internationalen Handels darstellt und dass hier im Namen von Standards sehr viel Politik gemacht wird“.

Mehr Transparenz gefordert

Tatsächlich regeln technische Standards und Normen über 80 Prozent des Welthandels und kontrollieren den Zugang zu den meisten Märkten. Sie beeinflussen das Design, die Funktionalität, die Herstellung und den Gebrauch von nahezu allem was produziert wird. So detailliert sie jedoch Produkteigenschafen und Produktionsverfahren festlegen, so vage ist der Prozess ihrer eigenen Entstehung. Allzu oft ist nämlich nicht nachvollziehbar, wer eine Norm eigentlich definiert hat und für wessen Interessen sie letztendlich steht. Daher müssen Normungsprozesse offen und transparent sein um ein gewisses Maß an Legitimität aufzuweisen.

Das Österreichische Normungswesen

• Insgesamt gelten in Österreich etwa 23.000 Normen (ÖNORMEN).
• Normen sind Empfehlungen, deren Anwendung grundsätzlich freiwillig erfolgt.
• Außer, der Gesetzgeber erklärt eine Norm für verbindlich oder nimmt in Gesetzen, Verordnungen, Bescheiden, etc. darauf Bezug (ca. 5 Prozent aller Normen).
• Rund 90 Prozent der hierzulande geltenden Normen sind europäischen oder internationalen Ursprungs.
• Normen werden bei Austrian Standards entwickelt, das als neutraler Dienstleister dafür das Projektmanagement stellt.
• Anträge zur Entwicklung einer neuen oder zur Überarbeitung einer bestehenden Norm sind für den Antragsteller seit 2016 kostenlos.
• Die Mitarbeit in den Standardisierungskomitees ist seit 2016 ebenfalls kostenlos.
• Kosten entstehen für die Teilnehmer durch die aufgewendete Zeit für Reisen, Teilnahme, Vor- und Nachbereitung der Arbeitssitzungen.
• Alle Mitglieder eines Komitees müssen einer Norm zustimmen, damit diese beschlossen werden kann (Einstimmigkeitsprinzip).
• Die Transparenz des österreichischen Normungsprozesses wird zum Beispiel durch die folgenden kostenlosen Online-Veröffentlichungen sichergestellt:
• Anträge auf die Entwicklung oder Überarbeitung von Normen – mit Möglichkeiten zur Stellungnahme,
• Norm-Entwürfe – mit Möglichkeiten zur Stellungnahme,
• Unternehmen und Organisationen, die Teilnehmende in die einzelnen Komitees entsenden,
• Aufgabenbereiche und aktuelle Projekte jedes einzelnen Komitees,
• Nationales Arbeitsprogramm aus dem ersichtlich ist welche aktuellen Projektanträge und Norm-Entwürfe öffentlich zur Stellungnahme aufliegen.
• Ausgewogenheit des Normungsprozesses soll dadurch sichergestellt werden, dass in den Komitees immer alle Interessensgruppen eines Fachgebiets vertreten sind – also Hersteller, Behörden, Verbraucher, Prüfstellen, Wissenschaft, Interessensvertretungen, etc.
• Offenheit soll gewährleistet werden, indem die Teilnahme in den Normungsgremien grundsätzlich jedem offensteht. Man muss jedoch über entsprechendes Know-how verfügen und die Praxis kennen.
• Die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit von Normen wird in öffentlichen Begutachtungsverfahren oder Umfragen überprüft. Dabei steht es jedem offen, ihre/seine Meinung kundzutun und Änderungen des Projektantrages vorzuschlagen.
• Hat das Komitee einen Normentwurf fertiggestellt, wird dieser sechs Wochen zur Stellungnahme durch alle interessierten Personen online veröffentlicht.
Quelle: Austrian Standards, Mai 2017

Geschrieben von Veronika Janyrova

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