In gruppenlebenden Spezies wie der des Homo sapiens gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, um Entscheidungen zu treffen, die mehr als ein Individuum betreffen: Entweder man einigt sich im Rahmen eines mehr oder weniger demokratischen Prozesses oder es gibt ein Alphatier, das den Ton angibt. Wenn ein Individuum eine Entscheidung findet, geht das in der Regel schneller als ein demokratischer Prozess. Die Kosten eines derlei hierarchisch organisierten Systems ist, dass die Entscheidungen nicht notwendigerweise die Lösung hervorbringen, die Kosten und Nutzen gerecht verteilen. Idealerweise teilen alle Beteiligten Ziele und Meinungen, deshalb existiert gar kein Konfliktpotential, und somit können alle gemeinsam am Erreichen dieser Ziele arbeiten. Dass es zu keinerlei Konflikten zwischen den Zielen der Einzelnen kommt, ist selten, und deshalb grenzt eben geschildertes Szenario an eine Utopie.
Schattenseite Harmonie
Wenn wir zu harmonisch sind, zu sehr mit dem Strom schwimmen, sind wir nicht kreativ. Neue Ideen entstehen meist dadurch, dass da jemand nicht angepasst ist, neues ausprobiert und kreativ ist. Demzufolge mag die Vorstellung einer perfekt harmonischen Welt zwar attraktiv erscheinen, sie dürfte aber auf lange Sicht eine schlecht funktionierende Utopie darstellen, da aufgrund fehlender Reibungspunkte und Anreize weder Innovation noch Fortschritt stattfinden. Stillstand ist jedoch nicht nur in der Biologie, sondern auch auf kultureller Ebene gefährlich. Während Innovationen (im Sinne genetischer Mutationen) in der Evolution laufend stattfinden, ist deren Etablierung, die zur Entstehung neuer Eigenschaften bis hin zu neuen Arten führt abhängig von Selektionsbedingungen, die ein Abweichen vom Althergebrachten fördern. Da unvorhergesehene Veränderungen integraler Bestandteil unserer Welt sind, ist die Beweglichkeit, die wir durch Variation und Innovation erlangen, das einzige Rezept für ein nachhaltiges Überleben eines sozialen Systems. Die Unbequemen, die Unangepassten, die Revolutionäre sind es also, die eine Gesellschaft am Leben erhalten, die sie davon abhalten, fett und bequem zu werden, von ihr verlangen, sich laufend weiter zu entwickelt. Es bedarf also eines Mindestmaßes an Konflikten, da Blockaden auf dem Weg zum Erreichen unserer Ziele zu Kreativität und Innovation anregen. Die Aufgabe einer humanistischen Gesellschaft ist es, diese Konflikte als Brutstätten der Kreativität zu pflegen, und gleichzeitig die antagonistische Eskalation zu verhindern.
Die Vorstellungen und Wünsche der Einzelnen sind also nicht notwendigerweise kompatibel. Es kann also der höchste Wunsch des Einen der größte Albtraum des Anderen sein. Klaffen die Vorstellungen der Beteiligten sehr weit auseinander, kann dies Schwierigkeiten mit sich bringen, sodass eine Einigung nicht möglich scheint. Die Konsequenz von solchen Uneinigkeiten kann wiederum zweierlei sein. Entweder schafft man es, sich völlig aus dem Weg zu gehen, und so Konfliktpotential zu reduzieren, oder, sofern dies nicht möglich ist, kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Es gibt jedoch auch noch eine dritte Option: Man verhandelt einen Kompromiss aus, bei dem beide Beteiligten ein wenig von ihren Zielen abrücken, sich ihnen aber trotzdem ein wenig annähern.
Kompromiss zur Konfliktvermeidung
Auseinandersetzungen sind für alle Beteiligten von Nachteil. Besonders die Eskalation zu physischen Kämpfen wird im Tierreich so lange wie irgend möglich vermieden und kommt nur als letzte Option zum Einsatz, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind. Die massiven Kosten, die durch physische Aggression verursacht werden, machen Kompromisse in den meisten Fällen zu einer viel attraktiveren Alternative. Ein Kompromiss bedeutet ja, dass das eigene Ziel zwar nicht zur Gänze, aber immerhin teilweise erreicht wird, während man bei einer Konfrontation nicht nur riskiert, sein Ziel gar nicht zu erreichen, sondern darüber hinaus auch noch die Konsequenzen der Auseinandersetzung (physisch in Form von Verletzungen, ökonomisch im Sinne von materiellen Kosten) zu tragen hat.
Kompromisslösungen zu finden, kann ein langwieriger und umständlicher Prozess sein, jedoch helfen uns soziale Strukturen dabei, diese Vorgänge zu optimieren: Implizite Regeln helfen dabei, Konflikte zu minimieren, indem sie das soziale Miteinander regulieren.
Rang und Raum
Hierarchien und Territorien existieren vorwiegend, um ein Regelwerk für unsere Sozialbeziehungen zu etablieren, und so Auseinandersetzungen zu reduzieren. Beide haben im Alltagsverständnis einen eher negativen Beigeschmack, und werden in der Regel nicht mit Harmonisierung in Zusammenhang gebracht. Dies ist wenig erstaunlich, sehen wir doch in Naturdokumentarfilmen laufend Kämpfe um die Vormachtstellung oder um Territorien. In Wirklichkeit sind diese Kämpfe aber äußerst selten. Aggressive Auseinandersetzungen um Rang und Raum finden nur dann statt, wenn die Ansprüche darauf nicht respektiert werden. Meist ist es jedoch auch für die Rangniedrigeren von Vorteil, diese zu achten, da Hierarchien durch das ihnen innewohnende soziale Regelwerk die Rechte und Pflichten der Einzelnen so regulieren, so dass es selten zu Uneinigkeiten kommt. Während also die Ranghöheren zwar mehr profitieren, ist es für alle von Vorteil, den Frieden nicht zu stören. Ähnliches gilt auch für Territorien: Hierbei handelt es sich ja um ortsabhängige Dominanz. Der Besitzer eines Territoriums ist derjenige, der die Regeln vorgibt. Sind die Ansprüche des Ranghöchsten bzw. des Besitzers jedoch so überzogen, dass die anderen Gruppenmitglieder völlig entrechtet werden, kann es dazu kommen, dass diese die Ansprüche infrage stellen und eine Auseinandersetzung herbeiführen.
Gerechtigkeit spielt also eine wichtige Rolle dabei, ob eine Kompromisslösung funktioniert oder nicht. Fühlen wir uns ungerecht behandelt, wehren wir uns. Dieses Gespür dafür was akzeptabel ist, und was nicht, scheint gruppenlebenden Tieren eigen zu sein. Dass nichtmenschliche Primaten sehr irritiert reagieren, wenn sie ungerecht behandelt werden, ist schon länger bekannt. Jüngere Studien zeigen ähnliche Verhaltensweisen auch bei Hunden. Der Wert einer Belohnung spielt erst dann eine Rolle, wenn ein anderer für dieselbe Handlung mehr bekommt als man selbst.
Neid als gesellschaftlicher Indikator
Wir stellen uns also weniger die Frage, ob unsere Bedürfnisse gedeckt sind, sondern vielmehr, ob andere mehr haben als wir selbst. Dieses Gespür für Ungerechtigkeit bringt als Schattenseite den Neid mit sich, in dem wir anderen nicht mehr gönnen als uns selbst. Gleichzeitig ist es aber zentral für das Sicherstellen von Gerechtigkeit in einem sozialen System. Dadurch stellen wir sicher, dass Kompromisse nicht auf Kosten weniger, sondern gerecht gefunden werden. Ein guter Kompromiss ist einer, bei dem alle Beteiligten zu einem vergleichbaren Maß profitieren und investieren. Dies funktioniert sehr gut in Gruppen, deren Größe überschaubar ist. Hier können jene leicht identifiziert werden, die die Regeln verletzen, und auf Kosten anderer ihren eigenen Profit maximieren. Ein solches egoistische Verhalten kann dazu führen, dass man aus Unterstützungssystemen ausgeschlossen wird, oder aber explizite Bestrafung nach sich ziehen.
Macht & Verantwortung
In gruppenlebenden Spezies, die hierarchisch organisiert sind, ist ein hoher Rang stets auch mit mehr Verantwortung und Risiko verknüpft. Das Alpha-Tier profitiert zwar von seinem übergeordneten Status, beispielsweise durch bevorzugten Zugang zu Ressourcen, ist aber umgekehrt auch für das Wohlergehen seiner Gruppe verantwortlich. Dies bedeutet, dass beispielsweise der Ranghöchste einer Gefahr als erster entgegentritt. Eine Weigerung oder die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, hat unweigerlich einen Rangverlust zur Folge. Diese unmittelbare Koppelung von sozialem Status und Risiko blieb in unseren politischen Systemen bis in den mittelalterlichen Ständestaat erhalten – in Form von sozialen Verträgen waren die Lehnsherren ihren Lehnsmännern verpflichtet. In modernen Demokratien ist diese Verzahnung aufgelöst. Politisches Versagen führt nicht mehr automatisch zu Rangverlust. Die direkte Kontrolle von Fairness in Kompromissen ist durch die veränderten Größenordnungen erschwert und die Identifikation von Verantwortlichen ebenso. Andererseits erhoffen wir uns von demokratischen Prozessen, dass sie zu Kompromissen führen, die zu einer fairen Verteilung führen. Dass sich die Regierenden regelmäßig auf den Prüfstand von Wahlen begeben müssen, ist die Kompromisslösung, die sicherstellt, dass die Demokratie als zwar schlechteste Regierungsform immer noch besser bleibt als alle anderen – zumindest solange die Gruppenmitglieder ihr Wahlrecht nutzen.
Aufklärung & Ethik notwendig
In den heutigen anonymen Gesellschaften kann uns dieser Mechanismus nicht wirklich weiterhelfen, und was übrig bleibt ist oft nur der Neid, ohne die ursprünglich positiven Ziele zu erreichen. Unsere Kontrollmechanismen sind unzulänglich für die heutige soziale Komplexität, und führen dazu, dass die Kosten der demokratisch gefundenen Kompromisse nicht immer gerecht verteilt sind. Durch das Fehlen individueller Verantwortlichkeit kombiniert mit der Entkoppelung von Macht und Risiko laufen Demokratien Gefahr, nicht unseren Ansprüchen der Gerechtigkeit zu genügen. Deshalb bedarf es aufgeklärter, ethisch denkender Bürger, die laufend diese basalen Mechanismen reflektieren und die Konsequenzen ihrer Handlungen beleuchten, um unsere humanitären Werte zu schützen.