„Wäre die Biologie nach revolutionären, statt evolutionären Strategien vorgegangen, gäbe es mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Leben auf der Erde.“
Evolution ist ein niemals abgeschlossener Prozess, auch wenn wir den Eindruck haben mögen, dass sich nicht wirklich etwas bewegt – zumindest was unsere biologischen Eigenschaften betrifft.
Veränderungen auf genetischer Ebene erfolgen in der Regel sehr langsam, die klassischen Mechanismen von Mutation und Selektion werden nur von Generation zu Generation wirksam. Epigenetische Prozesse können sich hingegen sehr viel schneller wirksam zeigen. So konnten beispielsweise Auswirkungen von Hungersnöten auf die Physiologie nachfolgender Generationen nachgewiesen werden. Eine weitere Quelle von biologischer Variation sind die Mikroorganismen, mit denen wir in enger Symbiose zusammenleben: Die Darmflora ist dafür verantwortlich, in welche Substanzen unsere Nahrungsmittel aufgeschlossen werden, und kann so massiven Einfluss auf die Physiologie ausüben. Die Forschung zu den komplexen Auswirkungen der Mikroflora auf die menschliche Gesundheit, Psyche und das Verhalten steckt noch in den Kinderschuhen, erste Hinweise deuten jedoch auf weitreichende Effekte hin.
Evolution & Epigenetik
In der Biologie ist Veränderung Tagesgeschäft. Lebewesen wandeln sich ständig, neue Arten entwickeln sich, während andere aussterben. Nur ganz wenige Arten halten sich über ungewöhnlich lange Zeiträume, und weil das so außerordentlich ist, werden sie als lebende Fossilien bezeichnet.
Lange wurde angenommen, dass Evolution ein bisschen so wie Fitnesstraining funktioniert: wenn man einen Muskel besonders stark in Anspruch nimmt, dann wird dieser dicker und stärker, und auf irgendeinen Weg wird diese Eigenschaft an die nächste Generation vererbt. Die Lamarckistische Schule der Vererbung erworbener Eigenschaften wurde durch die Darwin’sche Evolutionstheorie verdrängt, die als Quelle der Veränderung ausschließlich den Zufall sieht, und den Anpassungsprozess erst durch die Wechselwirkung dieser zufälligen Veränderungen mit den Lebensbedingungen – also durch Selektion – ermöglicht. Mutation und Selektion galten bis vor nicht allzu langer Zeit als die einzigen in der biologischen Evolution wirksamen Mechanismen. Durch die Entdeckung der Epigenetik, wobei es sich um das Ein- und Ausschalten von Genen unter anderem durch Umgebungseinflüsse handelt, erlebt der Lamarck’sche Gedanke eine Wiederbelebung. Neben zufällig erworbenen Eigenschaften durch Mutation erfahren Organismen Wandelbarkeit durch Aktivierung und Deaktivierung bereits vorhandener Information.
Revolution vs. Evolution
Neben diesen streng biologischen Faktoren spielen auch soziale und kulturelle Einflüsse eine entscheidende Rolle dabei, wie sich Arten entwickeln, insbesondere bei den Menschen mit hoch komplexen kulturellen und technologischen Innovationen ist dieser Einfluss stark ausgeprägt. Diese Formen der Innovation wirken viel rasanter: Ist der Effekt einer genetischen Veränderung erst in der folgenden Generation zu beobachten, kann Technologie in weniger als einem Jahr veraltet sein. Die technologische Entwicklung erfährt eine Beschleunigung, die dazu geführt hat, dass innerhalb eines Menschenlebens die Kommunikationsmöglichkeiten vom Fernschreiber bis zur Videotelefonie eine richtiggehende Revolution erfuhren. Doch ist das wirklich eine Revolution?
Abgesehen von der schnelleren Abfolge der Innovationen gleicht der Prozess unserer technologischen Entwicklung eher einer Evolution, einem Prozess der Veränderung, der meist ohne die aktive Zerstörung des Vorhandenen auskommt. Die älteren Technologien halten sich trotzdem noch eine Weile, und werden erst nach und nach von neuen verdrängt, insofern diese tatsächlich eine Verbesserung zum Status quo darstellen. So ist es bezeichnend, dass trotz der eindeutigen technologischen Überlegenheit von Smartphones diese weder klassische Mobiltelefone und schon gar nicht Festnetztelefonie völlig verdrängt haben. Evolutionäre Prozesse sind dadurch gekennzeichnet, dass erst eine Diversifizierung erfolgt, die entweder bestehen bleibt, oder darin endet, dass eine Variante die andere verdrängt. Revolutionen hingegen starten mit einem Zerstörungsakt, in dem bestehende Systeme eliminiert werden. Auf den Trümmern dieser Zerstörung bauen dann neue Strukturen auf. Wäre die Biologie nach revolutionären, statt evolutionären Strategien vorgegangen, gäbe es mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Leben auf der Erde.
Der technisierte Mensch
Kulturelle und technologische Entwicklungen scheinen weniger auf zufälligen Innovationen zu beruhen als die biologische Evolution. Dennoch sind die Möglichkeiten so vielfältig, dass es unmöglich ist, verlässliche Vorhersagen darüber zu treffen, wohin die Reise gehen wird. Manche generelle Trends scheinen absehbar: Die Evolution der Menschen wird durch die immer enger werdende Verzahnung mit Technologien eine Beschleunigung erfahren. Die Mensch-Maschine-Schnittstellen werden erst intuitiver – wie wir das durch Touchscreens an Stelle von Tastaturen bereits sehen – und zunehmend integriert. So scheint es aus heutiger Sicht sehr wahrscheinlich, dass Menschen bald Implantate zur Steuerung ihrer Gadgets besitzen werden.
Evolution ohne Ethik?
Besonders im Bereich der Medizin sind diese Visionen vielversprechend: Autonom gesteuerte Insulinregulatoren könnten durch implantierte Sensoren Insulingaben so feinmodulieren, dass Diabetes ein weit weniger belastendes Krankheitsbild darstellen würde. Die Transplantationsmedizin verspricht sich neues Potential durch die Möglichkeit, ganze Organe im 3D-Drucker herzustellen. Freilich ist hier die Forschung noch sehr weit weg davon, in breitenwirksame therapeutische Verfahren umgesetzt zu werden, die Vision scheint jedoch durchaus wahrscheinlich. Genetische Diagnostik spielt eine zunehmende Rolle in der Reproduktionsmedizin. Hier werden ethische Fragen aufgeworfen.
Der designte Mensch
In der Pränataldiagnostik werden genetische Analysen zur Abschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit eingesetzt. Bei künstlicher Befruchtung könnten derlei Methoden auch dazu genutzt werden, um bestimmte Eigenschaften im Nachwuchs auszuwählen – der Grat zum Designerbaby ist hier sehr schmal. Die Präimplantationsdiagnostik gestattet es, sich das Geschlecht der implantierten Embryos auszusuchen – ist das noch ethisch vertretbar?
Während die Auswahl von Embryos für viele noch in einen Graubereich fallen mag, dessen ethische Implikationen noch nicht endgültig geklärt sind, hat die Wissenschaft bereits den nächsten Schritt gemacht, der die Relevanz dieser Frage noch weiter bestärkt: CRISPR ist eine neue Methode in der Gentechnologie, die es ermöglicht, mit relativ einfachen Mitteln gezielt genetische Veränderungen herbeizuführen. Anfang August wurde über die erste erfolgreiche Manipulation eines menschlichen Embryos mit der CRISPR Cas9 Methode berichtet. Die Forscher deaktivierten ein Gen, das für Herzerkrankungen und plötzlichen Herztod verantwortlich ist. Da die Genvariante sich dominant weitervererbt, erkranken alle Träger. Somit kann durch die Eliminierung der defekten Genvariante nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person erkrankt reduziert werden, vielmehr bedeutet das, dass anstelle einer garantierten Erkrankung einer Person und der Hälfte ihrer Nachkommen, niemand erkrankt.
Die immensen Möglichkeiten zur Erleichterung menschlichen Leids, gepaart mit relativ leichter Machbarkeit, führen zu ausgeprägtem Enthusiasmus über diese neue Methode. Jedoch sind auch warnende Stimmen zu hören: Wie gut kann das System kontrolliert werden? Ist es tatsächlich so, dass nur die beabsichtigten Veränderungen ausgelöst werden? Kann die Methode auch für dunkle Absichten eingesetzt werden? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob es gutgehen kann, wenn selbst die biologische Basis unseres Menschseins sich nicht mehr unserem Einfluss entzieht.
Der Machbarkeit Grenzen setzen
Die wissenschaftlichen und technologischen Innovationen erlauben es uns, die Zukunft in einem Ausmaß in unsere eigenen Hände zu nehmen wie nie zuvor. Konnten wir dank der kulturellen und technischen Möglichkeiten bisher die Welt nach unseren Wünschen und Bedürfnissen umgestalten, können wir nun unsere biologische Zukunft beeinflussen. Bei der Manipulation der Welt nach unserem Belieben hat sich die Menschheit nicht gerade durch Bedachtsamkeit und Weisheit im Umgang mit den Ressourcen ausgezeichnet. In diesem Licht scheinen Bedenken zu den neuesten wissenschaftlichen Innovationen durchaus angebracht. Eine weltweite Auseinandersetzung mit den ethischen Implikationen ist höchst überfällig. Es müssen dringend Richtlinien entwickelt werden, die den Einsatz von Technologien regeln, die die Menschheit grundlegend verändern können. Denkbar ist eine Schwelle der Nützlichkeit, die überschritten werden muss, um eine genetische Modifikation zu erlauben. Wo zieht man diese Linie? Wo ist die Grenze zwischen noch gesund und schon krank? Dass dieser Übergang selten eindeutig ist, zeigt unter anderem die alljährlich wiederkehrende Diskussion um die Definition psychischer Erkrankungen. Was als Krankheit definiert wird ist Resultat einer Übereinkunft, nicht jedoch eine unverrückbare Tatsache. Folglich ist auch eine einfache Regel, dass Genveränderungen dann erlaubt sein sollten, wenn sie einer Krankheit entgegenwirken, nicht wirklich zielführend. Die Komplexität des Problems ist also derart ausgeprägt, dass eine umfassende Auseinandersetzung unumgänglich ist, um zu einer sinnvollen Lösung zu finden.