Wer kennt es nicht, das Misstrauen, das aufkommt, sobald Politiker die Kunst des Nichts-Sagens zum Besten geben? Oder wenn politische Entscheidungen wieder einmal offensichtlich im Dienst von Partikularinteressen stehen? Obwohl unser demokratisches Selbstverständnis nach Taten ruft, geben wir uns aufgrund von limitierten Zeitressourcen und mangelnden direkt-demokratischen Möglichkeiten letztendlich doch damit zufrieden die Politikerkaste durch den Kakao zu ziehen. Aber muss das so sein? Ist das der Demokratie letzter Schluss? Entsprechend dem Konzept von Liquid Democracy lautet die Antwort darauf eindeutig: Nein.
In den Jahren 2011 und 2012 machte die Piratenpartei Deutschland mit dem Konzept Furore und schaffte damals auch den Einzug in vier Landesparlamente. Obwohl die politischen Wahlerfolge seitdem ausblieben, zeigten sie der Welt vor wie Liquid Democracy als innerparteiliches Organisationsprinzip funktionieren kann.
Dazu bedienten sie sich der Open Source Software Liquid Feedback. Es handelt sich um eine Beteiligungsplattform, mit der möglichst viele Menschen bei der Parteiarbeit mitmachen und Meinungsbildung betreiben können. Aktuell werden auf dieser Plattform 3.650 Themen und 6.650 Initiativen von den (insgesamt 10.000) Mitgliedern diskutiert und abgestimmt. Dabei werden alle konstruktiven Anregungen, Ideen oder Anliegen transparent dargestellt und dezentral weiterentwickelt. Auf diese Weise gelang es etwa der Piratenpartei Österreich, mit ihren aktuell 337 Mitgliedern, ein umfangreiches Parteiprogramm zu erstellen, das über Bürgerbeteiligung und Netzpolitik weit hinausgeht.
Doch Liquid Democracy ist nicht nur eine Software oder ein parteipolitisches Experiment. Hinter Liquid Democracy steht das demokratiepolitische Modell des Direkten Parlamentarismus. Dieses versucht die Vorteile des parlamentarischen Systems mit den Möglichkeiten direkter Demokratie zu vereinen und damit die Defizite dieser beiden Systeme zu überwinden. Konkret geht es um die Schwäche der etablierten direktdemokratischen Systeme, dass der politische Diskurs zu den abzustimmenden Gesetzestexten lediglich zwischen den Initiatoren und den zuständigen Vertretern stattfindet. Im repräsentativen System ist es wiederum den politischen Fraktionen, Ausschüssen und Abgeordneten vorbehalten ist sich am politischen Diskurs zu beteiligen. Im Direkten Parlamentarismus hingegen entscheiden die Bürger selbst, zu welchem Thema und zu welchem Zeitpunkt sie sich aktiv an einem Diskurs beteiligen möchten. Der politische Diskurs wird dabei als eine zentrale Voraussetzung legitimer Entscheidungen gesehen.
So funktioniert Liquid Democracy
Liquid Democracy ist eine Mischform zwischen repräsentativer und direkter Demokratie, bei der sich der Bürger zu jeder Zeit online in den politischen Diskurs einbringen und an der Entstehung von Gesetzestexten beteiligen kann – wenn er oder sie das will. Der Bürger gibt seine Stimme nicht nur alle vier bis fünf Jahre ab, sondern hält sie sozusagen ständig „im Fluss“, indem er von Fall zu Fall entscheidet bei welchen Fragestellungen er selbst abstimmen möchte und bei welchen er sie an eine Person (oder Politiker) seines Vertrauens delegiert. In der Praxis kann dies so aussehen, dass man beispielsweise in Fragen des Steuerrechts von der Partei X vertreten werden möchte, bei umweltpolitischen Fragen von der Organisation Y und bei familienpolitischen Themen von der Person Z. Über die Schulreform möchte man jedoch selbst entscheiden. Die Delegation der Stimme kann natürlich jeder Zeit wieder rückgängig gemacht werden, wodurch eine effektive Kontrolle des politischen Systems gewährleistet ist.
Für die Delegierten bietet dieses Konzept eine Möglichkeit sich Einblick in die Meinungs- und Stimmungslage der Basis zu verschaffen und für eigene Vorhaben um Unterstützung und Stimmen zu werben. Für den Bürger ist es eine Möglichkeit sich politisch einzubringen und politische Meinungs- und Entscheidungsbildung mitzugestalten oder einfach nur nachzuvollziehen.
Liquid Democracy light
Die deutschen Vereine Public Software Group e. V., der Entwickler von Liquid Feedback, und Interaktive Demokratie e.V., der sich für den Einsatz von elektronischen Medien für demokratische Prozesse einsetzt, sehen den realistischen Weg zu mehr Mitbestimmung in der grundlegenden Erneuerung der Entscheidungsprozesse innerhalb von Parteien. Axel Kistner, Vorstandsmitglied des Vereins Interaktive Demokratie e.V. betont: „Die ursprüngliche Idee war es Liquid Feedback innerhalb von Parteien einzusetzen, da die verkrusteten parteiinternen Strukturen ihren Mitgliedern keine oder schlechte Möglichkeiten bieten sich einzubringen“. Der Einsatz als direkt-demokratisches Instrument war dabei nie vorgesehen.
Ein prominentes und viel diskutiertes Beispiel von Liquid Democracy bietet der deutsche Landkreis Friesland. Dieser hat vor zwei Jahren das Projekt Liquid Friesland gestartet und dabei Liquid Feedback eingeführt. Bislang haben die Bürger 76 und die Kreisverwaltung 14 Initiativen auf der Plattform veröffentlicht. Jene Bürgerinitiativen, die in Liquid Friesland ihre Abstimmung gewinnen, dienen der Kreisverwaltung jedoch lediglich als Anregungen und sind für diese nicht bindend. Dennoch kann sich die aktuelle Bilanz durchaus sehen lassen: Von den 44 Bürgerinitiativen, die im Kreistag bereits behandelt wurden, wurden 23 Prozent angenommen, 20 Prozent in veränderter Form angenommen und 23 Prozent abgelehnt. Weitere 20 Prozent waren bereits umgesetzt, bei 14 Prozent war die Kreisverwaltung nicht zuständig.
Friesland wird jedoch nicht die einzige deutsche Gebietskörperschaft bleiben, die den Schritt zur digitalen Bürgerbeteiligung wagt: „Demnächst werden noch zwei weitere Städte – Wunstorf und Seelze – und ein weiterer Landkreis – Rotenburg/Wümme – mit Bürgerbeteiligungen an den Start gehen und LiquidFeedback einsetzen“, so Kistner.
Wählen wir in Zukunft per Liquid Democracy?
Ungeachtet der Inspirationskraft, die das Konzept Liquid Democracy verbreiten mag, wird ihr praktischer Einsatz wohl weitgehend auf Bürgerbeteiligungen, sowie die innerparteiliche Willensbildung und Entscheidungsfindung beschränkt bleiben. Zum einen sind für die demokratiepolitische Praxis noch zahlreiche ungelöste Fragen offen, zum anderen scheint die Mehrheitsbevölkerung von der Vorstellung sich übers Internet politisch zu engagieren oder gar zu wählen, ganz und gar nicht begeistert zu sein.
Zu den ungeklärten Fragen gehört etwa die Abhaltung geheimer Wahlen und das damit einhergehende Sicherheits- und Manipulationsriskiso. Einerseits müsste überhaupt erst eine sichere, geheime, aber dennoch nachvollziehbare „digitale Wahlurne“ entwickelt werden, die die Identität der Wähler sicherstellt und ihre Stimmberechtigung überprüft, gleichzeitig aber auch deren Entscheidung nachträglich anonymisiert und dieses Verfahren darüber hinaus auch nachvollziehbar gestalten kann. Obwohl dies mitunter durch die Vorlage einer Bürgerkarte und eine Programmierung mittels eines open source codes technisch zu bewerkstelligen wäre, bleibt dennoch ein nicht zu leugnendes Manipulationsrisiko bestehen und die Nachvollziehbarkeit wohl nur einer kleinen Gruppe von IT-Kundigen vorbehalten. Zudem steht eine geheime Stimmabgabe auch in einem deutlichen Widerspruch zum Transparenz-Postulat von Liquid Democracy selbst. Die Entwickler von Liquid Feedback distanzierten sich aus diesem Grund 2012 auch öffentlich vom Einsatz ihrer Software in der Piratenpartei.
Elektronische Übermacht
Ein weiteres Dilemma ist die Frage, ob die flüssigen Abstimmungsergebnisse bindend oder bloße Anregungen sein sollen. Im ersteren Fall müssen sie sich der berechtigten Kritik stellen, dass sie Menschen mit größerer Internet-Kompetenz und Affinität beim politischen Entscheidungsprozess bevorzugend würden und die Ergebnisse einer Online-Diskussion fälschlicherweise als repräsentativer Meinungsdurchschnitt gehalten würde. Im zweiteren Fall, wenn die Abstimmungsergebnisse keinen bindenden Status erhalten, wird das direkt-demokratische Potenzial dieses Konzepts schlichtweg verspielt.
Ein weiterer, häufig vorgebrachter Kritikpunkt ist die niedrige Beteiligung, die mit digitalen direkt-demokratischen Instrumenten im Allgemeinen erzielt wird. Im Falle des erfolgreichen Projektes Liquid Friesland beträgt die Beteiligung etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung. Im Vergleich dazu lag etwa die Beteiligung an der Petition zur Aufklärung des Hypo-Alpe Adria Skandals im vergangenen Jahr bei 1,7 und jene am Volksbegehren „Bildungsinitiative“ im Jahr 2011 bei 4,5 Prozent. Dies ist jedoch nicht weiter verwunderlich, da die politische Online-Beteiligung auch für westliche Demokratien Neuland ist. Dennoch wird die E-Demokratie von einer Mehrheit der Bevölkerung schlichtweg abgelehnt.
„Die Ausweitung der Bürger-Staat-Beziehung auf den digitalen Raum ist kein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit.“
Daniel Roleff, Politikwissenschaftler
Laut einer Studie des SORA Instituts für Sozialforschung und Consulting stecken E-Demokratie und E-Partizipation in Österreich noch in den Kinderschuhen. „Digitale Wahlen werden überhaupt kritisch beäugt: Sowohl Experten wie auch das Gros der Bevölkerung nennen mangelnde Transparenz und Manipulationssicherheit als wichtigste Kritikpunkte“, ist der Studie von Mag. Paul Ringler zu entnehmen. Auch in Deutschland fällt die Einschätzung der Bürger nicht anders aus. 2013 hat die Bertelsmann-Stiftung telefonisch 2.700 Bürger und 680 Entscheidungsträger aus den entsprechenden Kommunen nach ihren bevorzugten Beteiligungsformen befragt. Demzufolge lehnten 43 Prozent der befragten Bürger Online-Beteiligung ab, nur 33 Prozent konnten ihr etwas abgewinnen. Zum Vergleich: Die Beteiligung an Gemeinderatswahlen hielten 82 Prozent gut und nur 5 Prozent lehnten sie ab. Das Fazit der Bertelsmann-Stiftung: „Auch wenn die jüngere Generation hier deutlich besser bewertet, haben die neuen Formen netzbasierter Beteiligung noch ein vergleichsweise schlechtes Ansehen und konnten sich bislang nicht als ein anerkanntes Instrument demokratischer Beteiligung etablieren.“
Das Fazit der SORA-Studie lautet wiederum: Die Internet-Revolution fördert nicht von sich aus das politische Interesse, macht es den politisch Interessierten aber leichter, sich zu informieren und zu beteiligen.“ Diese Einschätzung wird etwa auch vom deutschen Politikwissenschaftler Daniel Roleff geteilt: „Die Ausweitung der Bürger-Staat-Beziehung auf den digitalen Raum ist kein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit.“
Liquid Democracy – Wohin geht die Reise?
Vor diesem Hintergrund sieht auch Peter Parycek, Leiter der Projektgruppe E-Democracy an der Donau-Universität Krems das größte Potenzial von Liquid Democracy in einer neuen Form von Kooperationsprojekten zwischen Bürgern und der öffentlichen Verwaltung. Er verweist dabei etwa auf das aktuelle Beteiligungsprojekt Digitale Agenda der Bundeshauptstadt Wien. Dabei werden Bürger eingeladen eine digitale Strategie für die Wien mitzuentwickeln. „Wesentlich dabei ist, dass dabei gleichzeitig ein virtueller, wie auch ein realer Dialog zwischen der Verwaltung und den Bürgern stattfindet“, so Parycek. „Die Liquid Democracy Software bietet vielversprechende Möglichkeiten um Ideen zu sammeln und einen offenen Innovationsprozess zu organisieren“, so Parycek.
Um das Vertrauen der Bürger in die Politik wieder aufzubauen, bedarf es seiner Meinung nach vor allem eines: mehr Transparenz in der öffentlichen Verwaltung und Politik. „Der Druck auf die politischen Parteien transparenter zu werden steigt zunehmend. Die werden sich über kurz oder lang wohl öffnen“, so Parycek. Tatsächlich werden sich politische Parteien einer stärkeren Transparenz und inneren Demokratisierung nicht mehr lange verwehren können, denn an der Basis der etablierten Großparteien brodelt es bereits und der Ruf nach mehr Mitbestimmung wird immer lauter. Liquid Democracy wird vielleicht nicht unser Demokratiemodell revolutionieren, doch zeigt sie einen Weg vor, wie Mitbestimmung und Transparenz funktionieren kann.