„Wenn wir genau hinschauen, beruhen unsere heutigen Unternehmensstrukturen zum größten Teil auf Kontrolle. Die neuen Organisationsmodelle hingegen basieren auf Vertrauen – auf intelligentem Vertrauen.“
Frédéric Laloux zu new work
„Bei einer Erkältung findet man Trost darin, dass sie in einigen Tagen vorüber ist, in der Arbeitswoche spätestens am Mittwoch meist auch.“
Frithjof Bergmann beherrscht es, schwierige Fragen in plakative Vergleiche zu gießen. Leidet der arbeitende Mensch also? „Ja, wir leiden“, so der Austro-US-Sozialphilosoph, „Allem voran ist es die Armut der Begierde, die sich breit macht. Die Unfähigkeit, Wünsche zu äußern und eigene Projekte zu realisieren. Nicht zuletzt deshalb klammern wir uns an Jobs, die nicht nur unseren Lebensunterhalt, sondern auch unseren Platz in der Gesellschaft sichern – selbst wenn sie unbefriedigend sind. Und wir verzweifeln übermäßig, wenn wir sie verlieren.“
Bergmann predigt, „sich auf das zu besinnen, was wir wirklich, wirklich wollen“, und hat schon in den 1980ern ein – auch von Regierungen – viel beachtetes Konzept entwickelt: new work. Es basiert auf drei Säulen. Der Selbstversorgung, der klassischen Erwerbsarbeit und der Arbeit, die besonderen Spaß macht, eine Berufung ist. Im besten Fall verbringt der Mensch damit je ein Drittel seiner Zeit.
New Work: Von Flint bis Einhorn
Den ersten Versuch der Umsetzung startete Bergmann 1984 in der monokonstruierten US-Stadt Flint. Mindestens ein Mitglied jeder Familie arbeitete dort in den Fabriken von General Motors, die Arbeitslosenquote betrug dreißig Prozent, weitere Entlassungen standen bevor. Anstatt die Hälfte der Belegschaft zu kündigen, schlug Bergmann vor, sollten die Arbeiter ein halbes Jahr in der Fabrik arbeiten, den anderen Teil zum Aufbau neuer Erwerbsmöglichkeiten nutzen. – Stichwort Selbstentfaltung. Die Halbierung der Arbeitszeit blieb ohne Lohnausgleich. 1986 wurde das Projekt, an dem bis zu 5.000 Menschen beteiligt waren, allerdings eingestellt. Es gab zwar vorzeigbare Ergebnisse – ein Arbeiter eröffnete ein Yoga-Studio, ein anderer schrieb ein Buch, aber bei den meisten überwog die Angst, den Verdienstausfall nicht durch eigene Arbeit, sprich eigenes Engagement ausgleichen zu können.
Trotzdem Bergmanns Konzept zum damaligen Zeitpunkt nicht aufging, so war und ist es doch bis heute eine Quelle der Inspiration für Unternehmer weltweit: „In vielen Jobs und Branchen ist mein Appell, das zu tun, was wir wirklich, wirklich wollen, bereits Realität geworden. Es ist Teil der Unternehmenskultur. Ich bin so glücklich, dass sich das geändert hat“, resümierte der heute 87-Jährige im Frühjahr 2018. Tatsächlich steigt die Zahl der Unternehmen, die New Work auf ihre ganz eigene Art umsetzen. An dieser Stelle seien nur zwei genannt, die das Kontakt-Netzwerk Xing erst im März 2018 auszeichnete: Die Unternehmensberatung Intraprenör definiert Erfolg über maximale Flexibilität aller Mitarbeiter, damit die Belegschaft ihre Kreativität bestmöglich einbringen kann. Dazu tragen etwa eine vier Tage-Woche und ein achtwöchiges Sommer-Sabbatical bei. Einhorn, ein junges Unternehmen, das nachhaltig produzierte, vegane Kondome in Designerverpackungen verkauft, überzeugte mit einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem die Mitarbeiter ihre Aufgaben selbst wählen, die Gehälter in der Gruppe bestimmt werden und es keine Beschränkung der Urlaubstage gibt.
New Work: Auf in die Holokratie
Ein Unternehmen, das New Work ebenfalls auf besondere Weise lebt, ist i+m Naturkosmetik. Dort befindet man sich auf dem Weg in die Holokratie – ein Begriff, zusammengefügt aus dem altgriechischen hólos für „alle“ und „kratie“ für „Herrschaft“. Damit einher geht vor allem Entscheidungsfreiheit, und zwar die aller Mitarbeiter. „Chef“ Jörg von Kruse erläutert: „Wichtig ist, zu verstehen, dass dieses Modell nicht aus der Theorie kommt, sondern sich organisch an vielen Stellen bzw. in vielen Unternehmen entwickelt, die mit ganz unterschiedlichen Gestaltungen experimentieren.“ Gemeinsamkeiten im Zusammenhang mit Holokratie oder auch evolutionärer Organisation gibt es aber doch: Selbstführung, Ganzheitlichkeit und evolutionären Sinn. „Ein Unternehmen wird nicht mehr wie eine Maschine gedacht, sondern als lebendiger Organismus verstanden, dessen Zellen miteinander kooperieren und der als Ganzes in einem Austausch bzw. einem Anpassungsprozess mit seinem Umfeld steht und dessen Überleben von diesem abhängig ist.“
Seine Rolle als Chef? Die ändere sich gewaltig. „Bis zur Einführung der Selbstführung bestand sie zu etwa 50 Prozent aus dem Fällen von Entscheidungen. Dies hat sich nun erheblich reduziert, da unsere Mitarbeiter nun vielmehr Entscheidungen selber fällen.“ Aus seiner führenden sei eine eher dienende und unterstützende Rolle geworden, aus seiner kontrollierenden Haltung eine vertrauende. „Meine Aufgabe ist es, gute Bedingungen zu schaffen, das heißt Strukturen und Entscheidungsverfahren zu etablieren, die die Selbstführung fördern und die Möglichkeiten für die Mitarbeiter verbessern, die sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit einzubringen.“
Inspiration fand Jörg von Kruse übrigens unter anderem beim Ex-McKinsey-Partner Frédéric Laloux. Der ist heute einer der Vorreiter für neue Organisationsformen mit hoher Mitarbeitermotivation und Autor des Grundlagenwerks „Reinventing Organizations“. Über Selbstführung als Organisationsprinzip sagt er: „Es gibt heute Organisationen mit Tausenden von Mitarbeitern, die komplett ohne eine hierarchische Bindung an einen Vorgesetzten oder CEO arbeiten. Das mag verrückt klingen, ist aber genau die Art und Weise, wie komplexe Systeme – denken Sie an unser Gehirn oder natürliche Ökosysteme – funktionieren.“ Das menschliche Gehirn, sagt er, bestehe aus etwa 85 Milliarden Zellen. Keine davon sei ein CEO, der anderen Zellen, die glauben, ein Vorstand zu sein, sage: ,Hey Leute, wenn Ihr eine gute Idee habt, schickt sie zuerst zu mir´. „Wenn Sie versuchen würden, das Gehirn in dieser Weise zu trainieren, würde es nicht mehr funktionieren. So kann man Komplexität nicht bewältigen. Deshalb basieren alle komplexen Systeme, denken Sie nur an Wälder, den menschlichen Körper oder auch jedes Organ, auf Selbstführung.“
High Performern und Doppelagenten
Doch braucht es für Selbstführung nicht einen ganz bestimmten Mitarbeitertyp? Diese Frage bekommt Mark Poppenberg, Gründer von intrinsifyme – einem Think Tank für die neue Arbeitswelt, oft gestellt. Es wolle nämlich nicht jeder Verantwortung übernehmen, heißt es. Poppenberg hat eine klare Meinung dazu: „Jeder, der ein traditionell geführtes Großunternehmen von innen gesehen hat, weiß: Es gibt noch ein zweites Spiel. Das realere Spiel sozusagen. Da wo die echte Arbeit passiert. Bloß kann man die Scheinwelt nicht ungestraft ignorieren, denn schließlich hat sie ihren Ursprung in der formalen Struktur, also da wo die Macht sitzt. Sie auszublenden hätte womöglich große Konsequenzen.“ Und so sähen sich Mitarbeiter in traditionell geführten Unternehmen, die in einem dynamischen Markt agieren, dazu gezwungen, zum Doppelagenten zu werden. Also nichts mit new work. „Sie zeigen ein erwartungskonformes Verhalten auf der formalen Vorderbühne, während sie gleichzeitig ein abweichendes Problemlösungsverhalten auf der informellen Hinterbühne liefern.“ Entfessle man einen Doppelagenten, müsse er nicht mehr in ständiger Zerrissenheit leben, dann könne sein wahres Potential sichtbar werden. „Ein Mitarbeiter in einem post-tayloristischen Unternehmen hat es viel leichter. Er arbeitet ja im menschlichen Normalzustand. Natürliche Hierarchiebildung, flexible Aufgabenverteilung, problembezogenes Lernen und eine ,normale´ uncodierte Sprache brauchen wir nicht lernen. Das können Menschen schon seit zehntausenden von Jahren. So kommen wir auf die Welt. Man muss uns nur lassen.“
INFO: Prinzipien von evolutionären Organisationen
- Selbstführung – Es gibt keine Hierarchien und keinen Konsens. Die Mitarbeiter treffen alle notwendigen Entscheidungen selbst. Die Werkzeuge, die es dafür braucht, stellt der Unternehmensgründer zur Verfügung. Er schafft auch die Strukturen, in denen eine solche Arbeitsweise möglich ist.
- Ganzheit – Der Mensch wird mit allen Teilen seines Selbst akzeptiert. Neben dem Verstand ist auch Platz für emotionale, intuitive und spirituelle Aspekte.
- Evolutionärer Sinn – Evolutionäre Evolutionen entwickeln sich aus sich selbst heraus. Das alte Konzept, in die Zukunft zu schauen, um dann ein Ziel vorzugeben und die Schritte dorthin zu kontrollieren, lassen sie hinter sich. Wohin die Entwicklung geht, ist nicht immer klar, aber sie folgt zwingend dem ureigenen Sinn der Organisation.
nach Frédéric Laloux