AMNESTY INTERNATIONAL | Während Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine fortsetzt, führt das Land auch einen Kampf an der „Heimatfront“ gegen diejenigen, die den Krieg und die von den russischen Streitkräften begangenen Kriegsverbrechen kritisieren. Dutzenden von Menschen in Russland drohen bis zu zehn oder mehr Jahre Haft, weil sie „falsche Informationen über die Streitkräfte“ verbreitet haben – ein neues Verbrechen, das extra eingeführt wurde, um gegen Kriegskritiker*innen vorzugehen.
Zu den Verfolgten gehören Studierende, Rechtsanwält*innen, Kunstschaffende und Politiker*innen. Die Zahl derer, die wegen ihrer Kritik am Krieg nach verschiedenen Artikeln des Strafgesetzbuches strafrechtlich verfolgt werden, liegt Berichten zufolge bei über 200. Betroffen ist u.a. die Journalistin Marina Ovsyannikova, die einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, als sie im russischen Fernsehen ein Anti-Kriegs-Plakat hochgehalten hat.
Amnesty International veröffentlicht heute in einem kurzen Bericht die Geschichten von zehn Personen, die derzeit wegen ihrer öffentlichen Kritik am Krieg inhaftiert sind. In dem Statement fordert die Menschenrechtsorganisation die russischen Behörden auf, diese Personen unverzüglich und bedingungslos freizulassen und die neuen Gesetze sowie alle anderen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung unvereinbaren Gesetze aufzuheben. Außerdem appelliert Amnesty erneut an die internationale Gemeinschaft, „alle Möglichkeiten internationaler und regionaler Mechanismen zu nutzen, um eine wirksame Untersuchung der Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine sicherzustellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“ Ein entscheidendes Element dabei sei die Unterstützung derjenigen in Russland, die sich aktiv gegen die russische Aggression in der Ukraine wenden.
„Die Stimmen, die sich gegen den Krieg und die von den russischen Streitkräften begangenen Übergriffe erheben, dürfen nicht zum Schweigen gebracht werden“, so Amnesty International in dem Statement. „Die Freiheit des Zugangs zu Informationen sowie der Äußerung von – durchaus auch abweichenden – Meinungen ist ein entscheidendes Element für den Aufbau einer wirksamen Antikriegsbewegung in Russland. Indem sie kritische Stimmen ausschalten, versuchen die russischen Behörden, die öffentliche Unterstützung für ihren Angriffskrieg in der Ukraine zu stärken und aufrechtzuerhalten.“
HINTERGRUND: Schwerer Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine stieß im eigenen Land auf breite Kritik. Zehntausende Russ*innen protestierten friedlich auf den Straßen und kritisierten die Aggression in sozialen Medien. Die russischen Behörden reagierten mit einem harten Vorgehen gegen Demonstrierende und Kritiker*innen und nahmen Berichten zufolge mehr als 16.000 Personen fest, weil sie gegen die unangemessen restriktiven Vorschriften des Landes für öffentliche Versammlungen verstoßen hatten. Die Behörden gingen auch hart gegen die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien vor, indem sie viele zwangen, ihr Büro zu schließen, das Land zu verlassen oder ihre Berichterstattung über den Krieg einzuschränken und stattdessen offizielle russische Berichte zu zitieren. Menschenrechts-NGOs wurden als „ausländische Agent*innen“ oder als „unerwünscht“ bezeichnet, waren von willkürlichen Schließungen oder der Sperrung ihrer Websites betroffen und anderen Formen von Schikanen ausgesetzt.
Das Verbot der Weitergabe von Informationen über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte stellt einen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung dar, einschließlich des Rechts, Informationen zu suchen, zu empfangen und weiterzugeben, das u.a. durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, die EMRK und die russische Verfassung garantiert ist. Die russischen Behörden können diese Rechte zwar einschränken, doch müssen solche Einschränkungen notwendig und verhältnismäßig sein, um die Existenz der russischen Nation, ihre territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit vor Gewalt oder Gewaltandrohung zu schützen. Die pauschale Kriminalisierung von Kritik an den Streitkräften erfüllt diese Voraussetzung nicht.