Opportunismus

Das Nutzen von Möglichkeiten ist in der Biologie ein Faktor der Anpassung und somit auch des Überlebens. In einer modernen Gesellschaft wirken sich rücksichtslose Strategien negativ aus.

In der Biologie ist das Nutzen von Möglichkeiten ein großes Thema. Evolutionär hatten nur jene Lebewesen Bestand, die mit den jeweiligen Lebensbedingungen gut zurecht kamen. Opportun zu handeln bedeutet also evolutionär betrachtet einen evolutionären Vorteil.

Jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen: In der Biologie werden Lebewesen, die ein hohes Maß an Flexibilität aufweisen, und dadurch sehr gut auf wechselnde Bedingungen reagieren können, als Generalisten, oder aber auch als Opportunisten bezeichnet. Solche Organismen können vielerorts überleben, und sind auch wenig anfällig gegenüber Veränderungen in den Lebensbedingungen. Diese Fähigkeiten wirken auf den ersten Blick großartig und erstrebenswert: Überall zurechtzukommen, und allen Überraschungen, die das Leben so zu bieten hat, etwas entgegensetzen zu können, wirkt schon recht erstrebenswert.

Spezialisten vs. Opportunisten

Diese Fähigkeiten erwirbt sich ein Organismus jedoch nicht, ohne dafür zu bezahlen. Opportunisten sind wie ein Schweizer Taschenmesser: Unter der Vielzahl an eingebauten Werkzeugen ist sicher eines, mit dem sich das aktuelle Problem lösen lässt. Kaum jemand wird jedoch beim Zusammenbauen eines Möbelschrankes die Schrauben lieber mit einem Schweizer Taschenmesser als mit einem passenden Schraubenzieher bearbeiten. Die Flexibilität des Opportunismus bezahlen wir also damit, dass die Spezialfähigkeiten eher unterdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Ökologisch betrachtet bedeutet das, dass Opportunisten die Ressourcen nur suboptimal ausnutzen können. Sobald die Lebensbedingungen sich stabilisieren, übernehmen Spezialisten mehr und mehr das Steuer, die viel effektiver und effizienter mit diesen Bedingungen umgehen können. Zwischen den beiden Extremausprägungen der Opportunisten und Spezialisten gibt es unterschiedliche Zwischenformen von Lebewesen, die sich durch einen Mix von Flexibilität und Spezialisierung auszeichnen.

In diesem Spektrum sind wir Menschen eher im Bereich der Opportunisten einzuordnen, was unserer Spezies auch ermöglicht hat, mehr oder weniger den gesamten Planeten Erde zu besiedeln. Kulturelle Errungenschaften ermöglichen es uns, auf diese biologische Basis des Generalistentums unterschiedliche Spezialisierungen aufzubauen. Das zeigt sich in der Arbeitsteilung, aber auch in der Vielfalt der Persönlichkeitsstrukturen von Menschen. Auch hinsichtlich der Tendenz zum Opportunismus gibt es ausgeprägte individuelle Unterschiede.

Kein verlässlicher Partner

Bezeichnet man jemanden als Opportunisten, ist das selten als Kompliment gemeint. Es geht hier nämlich nicht lediglich um das Nutzen günstiger Gelegenheiten – was ja an und für sich nicht negativ ist – sondern was den Opportunisten auszeichnet ist die Bereitschaft, dies ohne Rücksicht auf Werte und Konsequenzen zu tun. Der kurzfristige Gewinn – ob materielle Einkünfte, oder der Zuspruch von Wähler*Innen – wird zum alleinigen Maßstab.

Opportunisten leben im Augenblick, ohne an das Morgen zu denken. Die Klimakrise führt uns in erschreckender Klarheit vor Augen, wie sich augenblicklich opportunes Handeln katastrophal auf die Zukunft auswirken kann. Die Weigerung, den Weg des geringsten Widerstandes zu verlassen, bringt mit sich, dass im Dienste des Erreichens unmittelbarer Ziele Raubbau an des Ressourcen betrieben wird, der sich schwerwiegend auf künftige Lebensbedingungen auswirkt. Doch Opportunisten haben eine weitere Schattenseite: Durch das Fehlen einer stabilisierenden Komponente in Form von verlässlichen Werten ist ihr künftiges Handeln auch nicht vorhersagbar. Nachdem sie sich allein nach den aktuellen Bedingungen richten, gelten schon morgen ganz andere Regeln für sie als heute. Das macht sie zu unverlässlichen sozialen Partnern.

Der unberechenbarer Opportunismus

Lebewesen, die wie die Menschen in Gruppen zusammenleben, stehen laufend vor der Herausforderung, Vorhersagen über die Aktionen anderer machen zu müssen. Dies gelingt uns umso besser, je besser wir jemanden kennen, je ähnlicher unsere Wertevorstellungen sind, und je schlüssiger die Handlungen einer Person sind. Da Opportunisten sich nach den herrschenden Bedingungen richten wie das sprichwörtliche Fähnchen im Wind, ist es unmöglich abzuschätzen, was ihr künftiges Tun bestimmen wird. In komplexen sozialen Systemen wie einer modernen Demokratie kann politischer Opportunismus zu massiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Problemen führen. Entscheidungen werden im Sinne der vorherrschenden Stimmung, und nicht auf der Basis von nachhaltigen Visionen gefällt.

Das kurzfristige Befriedigen unserer Bedürfnisse entspricht dem unreflektierten Bauchgefühl. Bei anderen Lebewesen zieht ungebremst opportunistisches Verhalten unter Umständen negative Konsequenzen für das Individuum, oder die eigene Spezies nach sich. Durch die technologischen und kulturellen Innovationen, zu denen wir Menschen fähig sind, sind die Auswirkungen unseres Handelns ungleich größer. Wir gefährden mit unserem Tun gleich den ganzen Planeten, sofern wir das gleiche Gehirn, das uns zum Entwickeln neuer Technologien befähigt, nicht auch für die Abschätzung der langfristigen Folgen einsetzen.

Nicht nur kognitive Fähigkeiten und das Wissen um Konsequenzen sind vonnöten, um vorausschauend gute Entscheidungen zu treffen, auch eine Anerkennung der Relevanz künftiger Auswirkungen muss erfolgen, damit wir uns nachhaltig verhalten. Persönliche Betroffenheit kann dabei hilfreich sein, wie man an der Fridays for Future Bewegung erkennen kann. Dass diese von jungen Menschen ins Leben gerufen wurde, liegt nicht zuletzt daran, dass sie noch sehr lange mit den Konsequenzen der Entscheidungen leben werden müssen, die heute kurzsichtig und wider besseren Wissens getroffen werden.

Opportunismus – Aus der Krise entstehen Möglichkeiten

Stehen Opportunismus und Nachhaltigkeit in einem grundsätzlichen Widerspruch? Wenn wir Menschen unsere Vernunftbegabtheit – für nichts anderes steht “sapiens” in der lateinischen Bezeichnung unserer Spezies – einsetzen, dann bringt eine Krise auch Gelegenheiten mit sich. So zeigen Erfolgsgeschichten unterschiedlicher Unternehmen, die frühzeitig die Herausforderungen der Klimakrise erkannt haben und Lösungen dafür anbieten, dass auch ein Leben im Einklang mit nachhaltigen Zielen neue Optionen eröffnet. Ein neuer Lifestyle entsteht, und mit Nachhaltigkeit lässt sich viel Geld machen. Auch wenn bei vielen Produkten das Versprechen nicht wirklich eingehalten wird.

Irrweg Materialismus

Die aktuellen Entwicklungen zeigen uns, dass wir an unserer Lebensweise Grundsätzliches ändern müssen, um die schlimmsten Konsequenzen der menschengemachten Klimakrise einzudämmen. Es werden große Hoffnungen in technologische Erfindungen gesetzt, die es uns ermöglichen sollen, in unserem Alltag genauso weiterzumachen wie bisher. So soll das Ersetzen von Verbrennungsmotoren durch Elektromobilität oder Wasserstoffantrieben die Lösung all unserer Probleme sein. Wissenschaftlich betrachtet, ist dies völlig irreführend und falsch. Mit diesem Ansatz entfernen wir uns von der Qualität, die uns als Generalisten im Laufe der Evolutionsgeschichte so erfolgreich gemacht hat: der Fähigkeit, uns und unser Tun an veränderte Bedingungen anzupassen. Wir werden nicht umhin kommen, vom motorisierten Individualverkehr auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Um diese grundlegende und einzig nachhaltig wirksame Änderung herbeizuführen, wird es notwendig sein, das westliche Wertesystem auf den Prüfstand zu legen. Die Ausrichtung auf Materialismus und Produktivität sind die Ursachen für die katastrophale Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten. Erfolg und Glück werden daran gemessen, wie hoch unser Einkommen ist und wieviel wir besitzen. Materielles Gut ist jedoch denkbar ungeeignet, um Zufriedenheit und Glück zu garantieren.

In den Sozialwissenschaften spricht man vom sozioökonomischen Status als Maß für den Erfolg eines Menschen. Die Bezeichnung zeigt, dass sich dieser aus zweierlei Aspekten zusammensetzt: Der ökonomische Teil bezieht sich auf die materiellen Ressourcen, die man sichern kann. Das westliche Wertesystem ist sehr stark durch eine Betonung dieses Aspektes gekennzeichnet. Dass der Status auch noch durch eine soziale Seite charakterisiert wird, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Wenn wir also ein Wertesystem finden wollen, das es uns ermöglicht, nachhaltiger zu leben, müssen wir an sich nichts Neues erfinden. Der Rohstoff ist in Form unserer Sozialsysteme bereits vorhanden. Was vonnöten ist, ist lediglich eine andere Gewichtung der Werte – weg vom materiellen hin zum sozialen Aspekt.

Foto/Video: Shutterstock.

Geschrieben von Elisabeth Oberzaucher

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