Universitätsprofessor Dr. Christoph Görg arbeitet am Institut für soziale Ökologie an der Universität für Bodenkultur in Wien. Er gehört zu den Herausgeber:innen und Leitautor:innen des APCC Special Report Strukturen für ein klimafreundliches Leben, und ist Autor des Buchs: Gesellschaftliche Naturverhältnisse. Mit ihm spricht Martin Auer von °CELSIUS.
Eine der Kernaussagen des Kapitels „Soziale und politische Ökologie“, für das Professor Görg Leitautor ist, besagt, dass „bisherige Innovationsgebote (wie grünes Wachstum, E-Mobilität, Kreislaufwirtschaft, energetische Nutzung von Biomasse)“ nicht ausreichen, um ein klimafreundliches Leben zu ermöglichen. „Der globale Kapitalismus beruht auf dem industriellen Metabolismus, der auf fossile und damit endliche Ressourcen angewiesen ist und damit keine nachhaltige Produktions- und Lebensweise darstellt. Eine gesellschaftliche Selbstbegrenzung der Ressourcennutzung ist notwendig.“
Zu hören ist das Interview auf AlpenGLÜHEN.
Was ist „soziale Ökologie“?
Martin Auer: Wir wollen uns heute über soziale und politische Ökologie unterhalten. Jetzt ist ja schon „Ökologie“ so ein Wort, das so oft gebraucht wird, dass man kaum mehr weiß, was es bedeutet. Es gibt ökologische Waschmittel, Ökostrom, Ökodörfer … Können sie einmal kurz sagen, was Ökologie eigentlich für eine Wissenschaft ist?
Christoph Görg: Ökologie ist grundsätzlich erst mal eine Naturwissenschaft, aus der Biologie kommend, die sich mit dem Zusammenleben der Organismen beschäftigt. Also zum Beispiel mit den Nahrungsketten, wer welche Fressfeinde, wer welche Nahrungsmittel hat. Sie analysiert mit naturwissenschaftlichen Methoden Interaktionen, Zusammenhänge in der Natur.
In der sozialen Ökologie ist etwas Besonderes passiert. Da werden zwei Sachen zusammengefasst, die eigentlich zwei völlig unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen angehören, nämlich das Soziale, die Soziologie, und die Ökologie als Naturwissenschaft. Die soziale Ökologie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft. Da arbeitet nicht nur irgendwann einmal ein Soziologe mit Ökologen zusammen, sondern es wird versucht, wirklich integriert Fragestellungen zu bearbeiten, Fragen, die wirklich ein Zusammenspiel, ein gemeinsames Verständnis der Disziplinen für einander bedürfen.
Ich bin von meiner Ausbildung her Soziologe, hab sehr viel auch mit Politikwissenschaft gearbeitet, aber jetzt hier im Institut arbeite ich sehr viel mit naturwissenschaftlichen Kollegen zusammen. Das heißt wir machen gemeinsam Lehre, wir bilden unsere Studierenden interdisziplinär aus. Also es macht nicht einer Naturwissenschaften und danach müssen sie mal ein Semester lang ein Bisschen Soziologie lernen, sondern wir machen das gemeinsam, in Co-Teaching, mit einem Naturwissenschaftler und einem Sozialwissenschaftler.
Natur und Gesellschaft wirken aufeinander ein
Martin Auer: Und Sie verstehen auch nicht Natur und Gesellschaft als zwei getrennte Bereiche, sondern als Bereiche, die ständig miteinander interagieren.
Christoph Görg: Genau. Wir beschäftigen uns mit den Interaktionen, mit den Wechselwirkungen zwischen den beiden Bereichen. Die Grundthese ist, man kann das eine nicht ohne das andere verstehen. Wir können Natur nicht ohne Gesellschaft verstehen, weil ja Natur heute komplett vom Menschen beeinflusst ist. Sie ist nicht verschwunden, aber sie ist transformiert, verändert worden. Alle unsere Ökosysteme sind Kulturlandschaften, sind durch die Nutzung überarbeitet worden. Wir haben das globale Klima verändert, und wir haben damit Einfluss genommen auf die Entwicklung des Planeten. Es gibt keine unberührte Natur mehr. Und es gibt aber auch keine Gesellschaft ohne Natur. Das wird in den Sozialwissenschaften oft vergessen. Wir sind angewiesen darauf, dass wir Stoffe aus der Natur aufnehmen – Energie, Lebensmittel, Schutz vor Unbilden des Wetters, vor Kälte und Wärme und so weiter, also wir sind vielfältig angewiesen auf die Interaktion mit der Natur.
Gesellschaftlicher Stoffwechsel
Martin Auer: Da wäre jetzt ein Stichwort: „Der soziale Metabolismus“.
Christoph Görg: Genau, was ich angesprochen habe ist ja der „soziale Metablismus“, also auf Deutsch der Stoffwechsel.
Martin Auer: Also wie bei einem Tier oder in einer Pflanze: Was kommt rein, was wird gegessen, wie wird’s in Energie und Gewebe umgewandelt und was kommt am Schluss wieder raus – und das jetzt übertragen auf die Gesellschaft.
Christoph Görg: Ja, das untersuchen wir auch genau quantitativ, was wird wie gegessen und was kommt hinten dabei raus, also welcher Müll bleibt dabei übrig. Wir untersuchen den Stoffdurchsatz, aber der Unterschied ist der, dass die Gesellschaft ihre Stoffbasis im Lauf der Geschichte erheblich verändert hat. Wir sind im Moment in einem industriellen Metabolismus, der beruht im Wesentlichen auf fossilen Brennstoffen. Fossile Brennstoffe haben eine Energiebasis, die andere Stoffe nicht haben, also zum Beispiel Biomasse hat nicht die gleiche Entropie. Wir haben da im industriellen Metabolismus eine Möglichkeit genutzt – mit der Ausbeutung von Kohle, Öl, Gas und so weiter – die andere Gesellschaften früher nicht hatten, und damit haben wir einen unglaublichen Reichtum geschaffen. Es ist wichtig, das zu sehen. Wir haben einen unglaublichen materiellen Wohlstand geschaffen. Wenn wir eine Generation zurückgehen, dann kann man das sehr leicht nachvollziehen. Aber wir haben damit – genau mit dem Vorteil, den wir gewonnen haben aus der Nutzung der Natur – ein riesengroßes Problem geschaffen, nämlich die Klimakrise und die Krise der Biodiversität und andere Krisen. Und dies muss man im Zusammenhang, in den Wechselwirkungen sehen. Also das ist ein Produkt dieser Ressourcennutzung, und wir müssen die Abhängigkeit menschlicher Gesellschaften von diesen Ressourcen auch ernst nehmen. Das ist das große Problem, vor dem wir heute stehen: Wie können wir den industriellen Metabolismus verändern. Das ist für uns das Zentrale.
Bisherige Innovationsangebote genügen nicht
Martin Auer: Jetzt wird da in der Einleitung gesagt – und zwar ziemlich kategorisch – dass bisherige Innovationsangebote wie grünes Wachstum, E-Mobilität, Kreislaufwirtschaft und die Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung nicht ausreichen, um klimafreundliche Strukturen zu schaffen. Wie kann man das begründen?
Christoph Görg: Mit der Nutzung der fossilen Energien haben wir der Gesellschaft eine Entwicklungsmöglichkeit geschaffen, die wir auf dem gleichen Niveau nicht fortsetzen können. Auch nicht durch die Nutzung von Biomasse und anderen Technologien. Bisher steht der Beweis dafür jedenfalls aus, dass wir das können. Wir müssen uns nach der Decke strecken, weil wir erkennen, dass wir, wenn wir die fossilen Energien weiter nutzen, eine Klimakrise erschaffen. Und wenn wir sie nicht nutzen wollen, müssen wir als Gesellschaften überlegen, welchen Wohlstand können wir uns noch in Zukunft leisten? Was wir im Moment machen: Wir kolonisieren die Zukunft. Wir nutzen heute den möglichst hohen Wohlstand auf Kosten der zukünftigen Generationen. Ich nenne das Kolonisierung. Das heißt: Deren Möglichkeiten werden erheblich beschnitten, weil wir heute über unsere Kosten leben. Und da müssen wir runter. Das ist eigentlich das zentrale Problem, das mit der These vom Anthropozän angesprochen wird. Es wird nicht so ausgesprochen. Das Anthropozän sagt ja, wir haben heute das Zeitalter des Menschen, ein Erdzeitalter, das durch den Menschen geprägt ist. Ja, das heißt, wir werden in den nächsten Jahrhunderten, Jahrtausenden unter den Ewigkeitslasten leiden, die wir heute produzieren. Also nicht wir, sondern zukünftige Generationen. Wir schränken deren Möglichkeiten erheblich ein. Und deswegen müssen wir unsere Kolonisierung der Zeit, unsere Kolonisierung der Zukunft zurücknehmen. Das ist die zentrale Herausforderung der derzeitigen Klimakrise. Das geht jetzt über unseren Special Report hinaus – das möchte ich betonen – das ist jetzt meine Auffassung als Professor der sozialen Ökologie. Das werden Sie so nicht in dem Report finden, das ist jetzt keine abgestimmte Meinung, sondern das ist jetzt meine Schlussfolgerung, die ich als Wissenschaftler aus dem Report ziehe.
Martin Auer: Wir haben ja mit dem Report auch kein Rezeptbuch, wie wir die Strukturen gestalten müssen, es ist ja eine Zusammenfassung von verschiedenen Perspektiven.
Wir können als Einzelne nicht nachhaltig leben
Christoph Görg: Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Wir haben uns explizit dafür entschieden, verschiedene Perspektiven auch so stehenzulassen. Wir haben ja vier Perspektiven: die Marktperspektive, die Innovationsperspektive, die Bereitstellungsperspektive und die Gesellschaftsperspektive. Oft wird in der Diskussion um den Klimawandel nur die Marktperspektive eingenommen, das heißt, wie können wir Konsumentenentscheidungen durch Preissignale verändern. Und da sagt unser Report ganz klar: Mit dieser Perspektive werden die Einzelnen überfordert. Wir können nicht mehr als Einzelne nachhaltig leben, oder nur unter großen Anstrengungen, unter großem Verzicht. Und unser Ziel ist eigentlich, wir müssen aus dieser Perspektive auf die Konsumentscheidungen der Einzelnen rauskommen. Wir müssen auf die Strukturen schauen. Deswegen haben wir andere Perspektiven dazugenommen, wie die Innovationsperspektive. Die gibt es häufiger. Da geht es um die Entwicklung neuer Technologien, aber die muss auch durch Rahmenbedingungen unterstützt werden, das kommt nicht von selbst, wie manchmal getan wird. Innovationen müssen auch gestaltet werden. Aber man muss über einzelne Technologien auch hinausschauen, man muss den Anwendungskontext von Technologien mit einbeziehen. Es wird oft so gesagt: Wer nicht über Technologien reden will, der soll den Mund halten. Nein, wir müssen über Technologien reden, aber auch über die Anwendung von Technologien und über die Nebenwirkungen von Technologien. Wenn wir glauben, der Elektromotor löst das Problem im Verkehrsbereich, dann sind wir auf dem Holzweg. Das Verkehrsproblem ist viel größer, da steckt die Flächenzersiedelung drin, da steckt die ganze Produktion von Elektromotoren und anderen Bestandteilen drin und natürlich der Stromverbrauch. Das muss man im Kontext sehen. Und das wird bei einzelnen Innovationsaspekten übersehen. Deswegen haben wir uns entschieden, die Marktperspektive und die Innovationsperspektive zu ergänzen durch eine Bereitstellungsperspektive, zum Beispiel die Bereitstellung von öffentlichen Verkehrsmitteln, oder die Bereitstellung von Gebäuden, die wirklich ein klimafreundliches Leben ermöglichen. Wenn das nicht bereitgestellt wird, dann können wir auch nicht klimafreundlich leben. Und am Schluss dann die Gesellschaftsperspektive, das sind diese übergreifenden Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Natur.
Kann Kapitalismus nachhaltig sein?
Martin Auer: Jetzt steht aber in diesem Kapitel – auch wieder ziemlich eindeutig – dass der globale Kapitalismus, weil er eben auf fossile, also endliche, Ressourcen angewiesen ist, keine nachhaltige Produktions- und Lebensweise darstellt. Ist denn ein Kapitalismus auf Basis von erneuerbaren Energien und Kreislaufwirtschaft gar nicht vorstellbar? Was verstehen wir eigentlich unter Kapitalismus, was charakterisiert ihn? Warenproduktion, Marktwirtschaft, Konkurrenz, Anhäufung von Kapital, Arbeitskraft als Ware?
Christoph Görg: Vor allem die Erzeugung von mehr Kapital durch die Verwertung von Kapital. Das heißt Profit machen. Und Profit wieder anlegen, verwerten, und daraus folgend Wachstum.
Martin Auer: Also man produziert nicht primär, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um zu verkaufen und den Gewinn wieder in Kapital zu verwandeln.
Christoph Görg: Genau. Der Zweck ist letztlich zu verkaufen, um Gewinn zu machen und den wieder zu investieren, und damit mehr Kapital zu machen. Das ist der Zweck, und nicht der Nutzen. Und das wäre eine große Frage: Wir müssen auf die Suffizienzperspektive kommen, und Suffizienz heißt ganz grundlegend: Was brauchen wir eigentlich? Und was können wir uns in Zukunft noch leisten angesichts der Klimakrise und angesichts der zukünftigen Generationen? Das ist die zentrale Frage. Und ob das im Kapitalismus möglich ist, ist eine zweite Frage. Das muss man sehen. Aber auf jeden Fall müssen wir aus dieser Dominanz des Profitmachens um des Profits willen – da müssen wir herauskommen. Und deswegen müssen wir auch aus der Wachstumsperspektive raus. Es gibt schon Kollegen, die glauben, man könnte auch mit Wachstum diese Klimakrise beseitigen. Kollegen von mir haben das untersucht, und haben alle Papers, die es dazu gibt, mal zusammengesucht und haben geschaut, ob es einen Beleg dafür gibt, dass wir unseren materiellen Wohlstand entkoppeln können vom Ressourcenverbrauch und von Klimawirkungen. Und dafür gibt es keine wissenschaftliche Evidenz. Und zwar für die wirkliche Entkopplung. Es gab zwar Phasen, aber das waren Phasen des Wirtschaftsabschwungs, also der ökonomischen Krise. Und es gab zwischendrin relative Entkopplung, also wir haben ein bisschen mehr materiellen Wohlstand gehabt als Nebenwirkungen. Aber wir müssen an den Wachstumsglauben und an den Wachstumszwang herangehen. Wir müssen an eine Ökonomie ran, die nicht mehr dem Glauben an unendliches Wachstum anhängt.
Ist Wachstum eine Frage des Glaubens?
Martin Auer: Aber ist jetzt Wachstum nur eine Frage der Ideologie, des Glaubens, oder ist das in unserem Wirtschaftssystem einfach so eingebaut?
Christoph Görg: Es ist beides. Es ist in unserem Wirtschaftssystem eingebaut. Trotzdem wäre es veränderbar. Das Wirtschaftssystem ist veränderbar. Auch strukturelle Zwänge können wir überwinden. Und da spielt dann der Glaube eine Rolle. Im Moment, wenn Sie sich im politischen Bereich umschauen: Sie finden keine einzige zu einer Wahl antretende Partei, die nicht auf Wirtschaftswachstum setzt. Alle glauben, Wirtschaftswachstum ist die Lösung aller unserer Probleme, vor allem unserer sozialen und ökonomischen Probleme. Und dafür müssen wir den Raum öffnen, dass wir Problemlösungen ohne die Wachstumsperspektive angehen. Unsere Kollegen nennen das Postwachstum. Wir können nicht mehr glauben, wie das in den 70er und 80er Jahren war, dass alle unsere Probleme durch Wirtschaftswachstum gelöst werden. Wir müssen zu anderen Lösungen kommen, zu einer Gestaltungslösung, die eher versucht, Strukturen zu verändern.
Gesellschaftliche Selbstbegrenzung
Martin Auer: „Gesellschaftliche Selbstbegrenzung“ ist da das Stichwort. Aber wie kann das geschehen? Durch Diktate von oben oder durch demokratische Prozesse?
Christoph Görg: Es kann nur demokratisch gehen. Es muss durch eine demokratische Zivilgesellschaft durchgesetzt werden, und dann wird es staatlich abgesichert werden. Aber es darf nicht als Diktat von oben kommen. Wer sollte denn dazu die Legitimation haben, wer sollte genau sagen, was noch geht und was nicht mehr geht? Das kann nur in einem demokratischen Abstimmungsprozess gehen, und dazu bedarf es einer anderen Form von wissenschaftlicher Forschung. Auch Wissenschaft darf nicht diktieren, sie kann das auch nicht diktieren. Deswegen haben wir unseren Special Report ergänzt durch einen Stakeholderprozess mit Stakeholdern aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft: Wie könnte denn aus dieser Sicht eine Gesellschaft aussehen, die ein gutes Leben ermöglicht und dabei klimafreundlich ist? Und wir haben nicht nur die Wissenschaftler gefragt, sondern die Vertreter verschiedener Interessensgruppen. Das ist eine demokratische Aufgabe. Die kann durch Wissenschaft unterstützt werden, aber sie muss in einem öffentlichen Raum definiert werden.
Martin Auer: Kann man das jetzt eingrenzen, kann man sagen: Das sind wirklich entscheidende Bedürfnisse, das sind Dinge, die nett sind, wenn man sie hat, und das ist Luxus, den wir uns nicht leisten können. Kann man das objektivieren?
Christoph Görg: Ganz objektivieren können wir das nicht. Aber wir können natürlich Indizien zusammentragen. Zum Beispiel haben die Fragen der ökonomischen Ungleichheit große Auswirkungen auf den Treibhausgasausstoß. Das ist der größte Einzelfaktor, ob Sie viel Geld haben. Viel Geld ist mit Luxuskonsum verbunden. Und da gibt es wirklich Bereiche, die könnte man ohne Verzicht einfach sein lassen. Muss man wirklich nach Paris zum Wochenend-Shopping fliegen? Muss man soundso viele Flugkilometer im Jahr zurücklegen? Ich zum Beispiel wohne in Bonn und arbeite in Wien. Ich habe mir das Fliegen trotzdem abgewöhnt. Ich habe gemerkt, da sind Sie zwar schneller in Wien oder in Bonn, aber Sie haben eigentlich Stress dabei. Wenn ich mit dem Zug fahre, ist es für mich besser. Ich verzichte eigentlich nicht, wenn ich da nicht fliege. Ich habe mein Zeitbudget umgestellt. Ich arbeite im Zug und komme entspannt in Wien oder zu Hause an, habe nicht den Stress mit dem Fliegen, sitze nicht lange beim Gate rum und so weiter. Das ist im Grunde genommen ein Gewinn an Lebensqualität.
Martin Auer: Das heißt, man kann Bedürfnisse feststellen, die man auf verschiedene Weise befriedigen kann, durch unterschiedliche Güter oder Dienstleistungen.
Christoph Görg: Genau. Und das haben wir versucht im Stakeholderprozess zu behandeln. Wir haben uns so Typen vorgestellt, ländliche Typen oder Menschen, die in der Stadt wohnen, und haben gefragt: Wie könnte sich deren Leben verändern, wie könnte das ein gutes Leben sein, aber mit weniger Klimabelastung einhergehen. Und da muss man auch ein bisschen Phantasie aufwenden. Das hängt sehr stark auch von der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen ab, und damit auch von der Ausgestaltung des Freizeitbudgets. Und auch die Sorgearbeit, die Sie haben, mit den Kindern und so weiter, also wie die strukturiert sind, welchen Stress Sie dabei haben, ob Sie viel hin- und herfahren müssen, da haben Sie viel entspanntere und flexiblere Möglichkeiten, klimafreundlich zu leben. Wenn Sie stressige Arbeitssituationen haben, dann verbrauchen Sie mehr CO2, um es ganz einfach zu sagen. Also wir machen das wirklich mit Zeitbudgets. Es ist sehr spannend zu sehen, dass die Strukturen der Zeitverwendung eine große Rolle für unseren CO2-Ausstoß spielen.
Martin Auer: Also kann man sagen, dass eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung es den Menschen erleichtern würde?
Christoph Görg: Auf jeden Fall! Mehr Flexibilität würde es ihnen erleichtern. Sie müssen nicht ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen, Sie können auch mit dem Fahrrad daneben fahren, weil Sie mehr Zeit haben. Wenn Sie die Flexibilität natürlich verwenden, dass Sie mehr in den Urlaub fliegen, dann geht der Schuss nach hinten los. Aber wir sind überzeugt – und wir sehen auch Belege dafür – dass man mit mehr Flexibilität auch das CO2-Budget runterfahren könnte.
Wie viel ist genug?
Martin Auer: Wie kann man Suffizienz, oder die Notwendigkeit von Suffizienz, so plausibel machen, dass die Menschen sich nicht davor fürchten?
Christoph Görg: Man will ihnen nichts wegnehmen. Sie sollen ein gutes Leben führen. Deswegen betone ich so, dass der Wohlstand, das gute Leben, durchaus ein Element sein muss. Aber was brauche ich denn für ein gutes Leben? Brauche ich neben meinen beiden Benzinern noch ein E-Mobil in der Garage? Nutzt mir das? Habe ich dadurch wirklich einen Gewinn, oder habe ich nur ein Spielzeug? Oder ist es für mich Prestige? Vieler Konsum ist Prestige. Ich will zeigen, dass ich mir London als Wochenendtrip leisten kann. Dieses Prestige, das ist nicht einfach aufzugeben, aber darüber könnte es einen öffentliche Diskurs geben: Was sind wirklich die Dinge, die ich für ein gutes Leben haben will? Und diese Frage haben wir unseren Praxispartnern gestellt. Nicht, wie sollen wir den Gürtel enger schnalle, sondern was brauchen wir wirklich für ein gutes Leben. Und dafür brauchen wir viel eher soziale Absicherung und Flexibilität.
Martin Auer: Jetzt steht hier auch, dass die Transformation zu klimafreundlichen Strukturen mit schwerwiegenden Interessen- und Sinnkonflikten verbunden ist, und es gerade die Aufgabe der politischen Ökologie sein soll, diese Konflikte zu verstehen und Möglichkeiten zur Überwindung aufzuzeigen.
Christoph Görg: Ja genau. Da kommt noch ein zweiter Begriff dazu, die politische Ökologie. Die ist eng verwandt mit der sozialen Ökologie. Und da gibt es verschiedene Schulen, aber prinzipiell sind sich alle Schulen einig, dass das notwendigerweise mit Konflikten einhergeht, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der die Interessen sehr gegensätzlich sind. Es gibt zum Beispiel Arbeitsplätze, die hängen am Automobilsektor. Das muss man ernst nehmen, die Leute sollen natürlich nicht auf die Straße geschmissen werden. Man muss Transformationsstrategien entwickeln. Wie wir von einer auf das Automobil ausgerichteten Wirtschaft wegkommen zu einer, die diesen Zwang nicht mehr hat. Das kann man umgestalten. Es gibt auch Projekte, es wird viel Hirnschmalz für die Frage aufgewendet, wie kann man eine Konversion hinbekommen. Und in der politischen Ökologie können solche Konversionsprojekte gestaltet werden.
Wenn wir nach Deutschland schauen: Es ist zum Beispiel möglich, auf Braunkohle zu verzichten. Es waren durchaus einige, die in der Braunkohle gearbeitet haben, die waren nach 1989 nicht böse darüber, dass die Braunkohle teilweise zusammengebrochen ist. Das war umweltbelastend, hat so verschmutzt, dass sie, obwohl sie ihre Arbeitsplätze verloren haben, gesagt haben: Das Leben ist einfach besser. Etwas ähnliches könnte man auch woanders hinbekommen, wenn man den Menschen eine entsprechende Zukunft bieten kann. Man muss ihnen natürlich eine Perspektive bieten, und die müssen sie gemeinsam entwickeln. Das ist eine Aufgabe, das geht nicht von selbst.
Was ist gesellschaftlich nützliche Arbeit?
Martin Auer: Ich habe mich gerade mit einem historischen Beispiel beschäftigt, dem Lucas-Plan. Da haben die Arbeitenden, die Beschäftigten in der Fabrikhalle gemeinsam mit den Konstrukteuren Alternativen entwickelt, und haben, um Entlassungen zu verhindern, das „Recht auf sozial nützliche Arbeit“ eingefordert.
Christoph Görg: Das ist ein sehr schönes Beispiel. Das war ja Rüstungsindustrie, und die Arbeiter haben gefragt: Ja sollen wir Waffen herstellen? Oder sollen wir sozial nützliche Dinge herstellen. Und die haben das selbst organisiert. Das war ein Plan für eine Konversion, ein Rüstungsbetrieb zu einem Nichtrüstungsbetrieb. Und da haben viele versucht, daraus zu lernen. Das kann man zum Beispiel heute aufgreifen, um die Automobilindustrie zu konvertieren, also eine Konversion zu einer anderen Industrie herzustellen. Das muss gestaltet werden, das darf keine Schocktherapie sein, die Betriebe sollen nicht pleite gehen. Man muss das auf eine Weise tun, dass die sozialen Ängste ernst genommen und präventiv bearbeitet werden. Wir haben Projekte hier gemacht mit Gewerkschaften. Wie können die Gewerkschaften der Autozulieferindustrie in Österreich als Akteure einer Transformation an Bord geholt werden? Dass sie also nicht Gegner, sondern Befürworter einer Transformation sind, wenn sie sozial gerecht durchgeführt wird.
Martin Auer: Die Lucas-Leute haben das ja aufgezeigt: Wir sind die Leute, die die Dinge machen. Diese Leute hätten ja eigentlich die Macht zu sagen: Das wollen wir nicht machen. Die Leute im Supermarkt hätten eigentlich die Macht zu sagen: Wir stellen jetzt keine Produkte mit Palmöl ins Regal, das tun wir nicht. Oder: Wir bauen keine SUVs, das machen wir nicht.
Christoph Görg: Sie stellen da eine revolutionäre Forderung, dass die Arbeitenden mehr Mitbestimmung haben, nicht nur über die Arbeitszeit, sondern auch über die Produkte. Das ist eine absolut aktuelle Frage, heute vor allem im Dienstleistungsbereich – ich nenne einmal Corona – dass die Beschäftigten in der Sorgeökonomie, mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten in ihrem Bereich haben. Da haben wir ja gelernt, was die Belastungen in der Corona-Epidemie für die Beschäftigten bedeuten. Und da Möglichkeiten zu schaffen, dass sie ihren Arbeitsbereich mitgestalten können, das ist die Forderung der Stunde.
Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Frage stellen
Martin Auer: Damit wären wir bei der Schlussfolgerung dieses Kapitels, die sagt, dass soziale Bewegungen, die die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse problematisieren, klimafreundliche Strukturen wahrscheinlicher machen.
Christoph Görg: Ja, das ist wirklich eine zugespitzte These. Ich bin aber überzeugt, dass sie völlig richtig ist. Ich bin davon überzeugt, dass die gegenwärtigen Krisen und die dahinterstehenden Probleme etwas mit Herrschaft zu tun haben. Bestimmte Akteure, zum Beispiel die, die über die fossile Energie verfügen, die haben eine strukturelle Macht und dominieren damit bestimmte Sektoren, und diese Macht muss man brechen. Gerade in dem Bereich, wo das Wort „Klimaterroristen“ wirklich einen Sinn hat, nämlich bei den großen fossilen Energiekonzernen, also Exxon Mobile usw., die sind wirklich Klimaterroristen gewesen, weil sie, obwohl sie wussten, was sie anrichten, immer weitergemacht haben und versucht haben, das Wissen über die Klimakrise zu verhindern, und jetzt versuchen sie auch noch, ihre Geschäfte damit zu machen. Und diese Machtverhältnisse muss man aufbrechen. Man wird sie nicht ganz abschaffen können, aber man muss erreichen, dass die Gestaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft offener werden. Die haben es geschafft, dass in allen Abkommen zur Klimarahmenkonvention das Wort „fossile Energien“ nicht drinsteht. Die eigentliche Ursache wird einfach nicht genannt. Und das ist eine Sache von Macht, von Herrschaft. Und das müssen wir aufbrechen. Wir müssen über die Ursachen reden und müssen ohne Denkverbote fragen, wie können wir das umgestalten.
Martin Auer: Ich denke, das können wir jetzt als Schlusswort stehenlassen. Vielen herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Titelfoto: Jharia Kohlengrube Indien. Foto: TripodStories via Wikipedia, CC BY-SA 4.0
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