Der ostwestfälische Kreis Höxter will erste Gemeinwohlregion Deutschlands werden. Die Stadt Steinheim hat schon eine Gemeinwohlbilanz erstellt, zahlreiche Betriebe der Region ebenfalls. Das Städtchen Willebadessen will seine Nachhaltigkeitsbilanz im September vorlegen. Die Kleinstadt versorgt sich komplett aus erneuerbaren Energien und baut seine Schule zum Familienzentrum um.
Klimakatastrophe, Artensterben, Naturzerstörung – Unser Wirtschaftssystem überfordert den Planeten. Der Welterschöpfungstag, an dem die Menschheit mehr Ressourcen verbraucht hat, als die Erde im selben Jahr „nachliefern“ kann, rückt immer weiter vor. 2019 war es der 29. Juli, auf Deutschland herunter gerechnet der 3. Mai. Würden alle so leben wir wir, bräuchte die Menschheit dreieinhalb Planeten. Problem: Wir haben nur den einen.
Das weder grüne noch politisch linksgerichtete Weltwirtschaftsforum WEF in Davos erkennt die Umweltzerstörung 2020 erstmals als größte Bedrohung der Weltwirtschaft. In seinem aktuellen Risikobericht nennt das WEF Extremwetter, Artensterben, ein mögliches Scheitern der Klimapolitik und den absehbaren Zusammenbruch von Ökosystemen als größte Gefahren für die Wirtschaft. Den Wert von Waren und Dienstleistungen, die die Welt auf Grundlage gesunder Ökosysteme produziert, beziffert das WEF auf jährlich 33 Billionen US-Dollar. Das entspricht der Wirtschaftsleistung der USA und Chinas zusammen.
Geld und Gewinnmaximierung sind zum Selbstzweck verkommen
Nicht nur unsere Lebensgrundlagen leiden unter den Bedingungen: Burn-Out, Armut, Hungerlöhne – etwa in asiatischen Billigfabriken, die auch schon mal mit den darin eingesperrten Arbeiterinnen abbrennen, damit wir noch billigere Klamotten kaufen können. Um die Folgen unseres Wirtschaftssystems zu veranschaulichen, stellt sich Christian Felber schon mal auf den Kopf – und wieder zurück auf die Füße.
Die Preise unserer Produkte lügen
Dort hin will der Österreicher auch die Wirtschaft zurück holen. „Geld“, sagt der Wirtschaftstheoretiker, sei „vom Mittel zum Zweck immer mehr zum Selbstzweck“ geworden. Unternehmen gelten als erfolgreich, wenn sie ihre Gewinn ohne Rücksicht auf Verluste steigern. Diese „externalisieren“ die meisten Betriebe: Kosten für Wasserverbrauch, Luftverschmutzung, Bienensterben, Artenschwund, Unfallopfer oder die Folgekosten der Erderwärmung wie Dürren, Überschwemmungen oder Deiche gegen steigende Meeresspiegel tauchen in keiner Unternehmensbilanz auf. Die Rechnung geht an die Allgemeinheit und die nachfolgenden Generationen. Wir leben auf Pump.
„Diejenigen, die verantwortlich wirtschaften haben Wettbewerbsnachteile und diejenigen, die unserer Gesellschaft und Umwelt schaden haben Preis- und Wettbewerbs-Vorteile. Das ist pervers.“
Christian Felber
Um das zu ändern haben Felber und einige Mitstreiter*innen die Gemeinwohlökonomie entwickelt. Schon mehr als 600 Unternehmen, Städte und Gemeinden haben sich dazu bisher von unabhängigen Auditoren nach 20 Gemeinwohlkriterien untersuchen und bewerten lassen. Maßstab sind die Achtung der Menschenwürde, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz.
Die Auditoren prüfen, ob das Unternehmen oder die Gemeinde diese vier Grundwerte in ihren Beziehungen zu Mitarbeiter*innen, Lieferanten, Kund*innen, Nachbarn und Konkurrenten einhalten. Punkte gibt es zum Beispiel für Mitarbeiterbeteiligung, sparsamen Einsatz von Rohstoffen, umweltfreundliche Mobilität, veganes Essen aus regionalen Zutaten in der Kantine, Spenden an gemeinnützige Organisationen, Solaranlagen auf dem Dach, langlebige, reparierbare Produkte, Verträge mit Ökostrom-Anbietern oder eine geringe Lohnspreizung.
Das Ziel: Der oder die Bestbezahlte – also meist der Chef oder die Chefin – soll höchsten fünf Mal so viel Gehalt bekommen wie der oder diejenige mit dem geringsten Lohn. Bewertet werden außerdem die Lieferketten, die Verteilung der Gewinne, regionale Wirtschaftskreisläufe und das Finanzwesen. Wer sein Geld bei einer nachhaltig arbeitenden Bank wie der Ethikbank, GLS oder Triodos anlegt, steht in der Gemeinwohlbilanz besser da.
„In der Wirtschaft soll es zugehen wie in einer gelingenden Beziehung. Man begegnet einander mit gegenseitigem Respekt und hört einander zu.“
Christian Felber
„Eigentum verpflichtet“, heißt es in Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes. „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Doch im im Wettbewerb setzen sich Unternehmen durch, die sich nicht um die sozialen und ökologischen Folgen ihres Wirtschaftens kümmern. Sie senken ihre Kosten zulasten der Allgemeinheit, produzieren so billiger und drängen die Konkurrenz vom Markt. Beispiel Landwirtschaft: Wer seine Tiere in möglichst enge Ställe sperrt, sie gegen Krankheiten vorbeugend mit Antibiotika füttert und die Böden überdüngt, liefert die scheinbar billigsten Lebensmittel. Die Discounter diktieren die niedrigsten Preise.
Märchenökonomie
Gleichzeitig muss Deutschland für zu viel Nitrat im Grundwasser demnächst fast 800.000 Euro pro Tag an die Europäische Union bezahlen, weil Landwirte ihre Felder mit zu viel Gülle überdüngen. Die Aufbereitung des Trinkwassers wird für die Wasserwerke immer aufwändiger. Die Wirtschaft privatisiert Gewinne, indem sie Verluste sozialisiert. Der Preis des Antibiotika-Einsatzes in den Ställen: Resistente Bakterien, gegen die sich die Menschen nicht mehr schützen können. Steuer- und Gebührenzahler*innen subventionieren die Tiermastbetriebe also nicht nur mit dem Geld aus dem EU-Agrarhaushalt.
„Märchenökonomie“ nennt Reinhard Raffenberg unser Wirtschaftssystem. In Detmold betreibt er mit einer Partnerin das vegetarische Restaurant VeraVeggie mit eigenem Gemüsegarten und arbeitet für die Stiftung Gemeinwohlökonomie NRW. Diese wirbt mit einem Startkapital von 300.000 Euro für das Konzept von Christian Felber. Sie baut für rund 1,2 Millionen Euro im benachbarten Steinheim eine stillgelegte Möbelfabrik zu einem nachhaltigen Gewerbeobjekt um: erneuerbare Energien, Coworking-Space, Büros und viel Raum für die gemeinsame Arbeit an einer zukunftsfähigen Wirtschaft. Das Gebäude gehört dem Apotheker Albrecht Binder, der seine beiden Apotheken nach der Gemeinwohlökonomie bilanziert hat.
455 von 1000 möglichen Punkten erreichte er im ersten Durchlauf. „Eine ganze Menge“, findet der 58jährige und nennt die Vorteile: „Die Mitarbeitenden meldeten sich seltener krank und identifizierten sich noch mehr als bisher mit dem Betrieb.“ Die erste Gemeinwohlbilanz habe gezeigt „was wir schon alles für mehr Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen tun, ohne uns dessen in Detail bewusst zu sein.“ Erstaunt war Binder dass er trotz Elektroauto und sparsamem Umgang mit Ressourcen beim Thema „ökologische Nachhaltigkeit“ nicht so gut abschnitten hat. Vor der zweiten Bilanzierung erstellte er eine CO2-Bilanz für die Apotheken und verdoppelte schon damit seine Punktzahl im Feld Ökologie. Vieles taucht in der Gemeinwohlbilanz nicht auf, weil es niemand aufgeschrieben hat.
Auch bei der geforderten Transparenz und bei der Mitarbeiterbeteiligung hat Binder nachgelegt: Seine Filialleiter wunderten sich, als er sie um Vorschläge für die Verteilung des Gewinns bat. Als Vollkaufmann dürfe er die Angestellten nicht am Unternehmen beteiligen. Doch in zahlreichen Gesprächen legten sie zusammen fest, wie viel der Chef jeden Monat verdienen soll. Der verbleibende Gewinn wird reinvestiert oder an gemeinnützige Vereine im Ort gespendet. Die Kunden können mit entscheiden, wer das Geld bekommt. Dazu hat Binder in seinen Apotheken für jeden möglichen Empfänger eine Kiste aufgestellt. Wer in der Apotheke einkauft, kann Holztaler hineinwerfen und so mitbestimmen, an wen die nächsten Spenden gehen.
Von „Work-Life-Balance“ hält der Pharmazeut Betriebswirt und Unternehmer wenig. Vielmehr soll der Betrieb seinen 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Kunden zusätzliche Lebensqualität verschaffen. Sinnvolle Arbeit sieht er als Teil eines erfüllten Lebens.
Ein weiterer Pluspunkt: Wie überall suchen die Unternehmen im Kreis Höxter Fachkräfte. Die Arbeitslosenquote liegt bei rund vier Prozent. Transparenz, faire Arbeitsbedingungen und Gehälter helfen, Angestellte im Unternehmen zu halten. So spart die Firma Kosten für Personalsuche und die Einarbeitung neuer Kräfte.
Auch als Alleinstellungsmerkmal, Marketinginstrument und für das neudeutsch so genannte Arbeitgeberbranding taugt die Gemeinwohlbilanz. Aus zahlreichen Studien geht hervor, dass vor allem junge Hochqualifizierte einen Job mit Sinn suchen. Das Portal Goodjobs.eu vermittelt ausschließlich solche Stellen vor allem in gemeinnützigen Organisationen und besonders nachhaltig wirtschaftenden Unternehmen. Die Betreiber berichten, dass sich die Zahl ihrer Seitenbesuche seit der Gründung 2016 jedes Jahr verdoppele, ebenso die Menge der angebotenen Jobs.
Auch immer mehr Kapitalgeber achten inzwischen auf die Nachhaltigkeit der Unternehmen, in die sie investieren. Zum Jahreswechsel versprach Blackrock-Geschäftsführer Larry Fink, sein Unternehmen werden „Nachhaltigkeit zu einem integralen Bestandteil des Portfolios machen“. Klimarisiken seien schon heute Investmentrisiken. Der größte Finanzinvestor weltweit verwaltet ein Vermögen von rund sieben Billionen US-Dollar.
Jahrhundertwerk
Im Kreis Höxter unterstützt auch die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Unternehmer wie Binder und Gemeinden bei der Gemeinwohlbilanzierung. Aus dem LEADER-Programm der Europäischen Union gibt es dafür Zuschüsse. In neun der zehn Städte des Kreises haben die Räte beschlossen, für ihre Kommune ebenfalls Gemeinwohlbilanzen zu erstellen.
Hermann Bluhm, CDU-Bürgermeister des Städtchens Willebadessen (8.300 Einwohner) sieht, „dass immer mehr Menschen des aktuelle Wirtschaftssystem als ungerecht empfinden“, weil die wachsende Produktivität nur wenigen zugute komme. Seine Stadt habe ihren Verbrauch fossiler Brennstoffe schon um 90 Prozent verringert, heize Schwimmbad, Schulzentrum und Rathaus mit der Abwärme einer Biogasanlage. Die Reinigungskräfte sind weiterhin bei der Stadt angestellt. Hier würden sie anständig bezahlt. Mit der Gemeinwohlbilanz will Willebadessen zeigen, was es schon Gutes tue. Bluhm geht es vor allem um die Veränderungen in den Köpfen der Bürger – und der Beschäftigten im Rathaus. Das Umdenken werde lange dauern: „Das ist mindestens ein Jahrhundertwerk“.
Wie mühsam die Umstellung auf eine nachhaltigere Wirtschaftsweise ist hat auch Axel Meyer erlebt. Vor rund 30 Jahren gründete er in Detmold Taoasis, einen Hersteller von Duftstoffen und ätherischen Ölen aus Bio-Zutaten. Inzwischen erwirtschaftet das Unternehmen mit rund 50 Vollzeit-Beschäftigten etwa zehn Millionen Euro Umsatz im Jahr. In seiner ersten Gemeinwohlbilanz hat Taoasis 642 Punkte erreicht. „Viele Kriterien passen nicht für jedes Unternehmen“, kritisiert Meyer, der die Firma zusammen mit seinem Sohn führt.
Fortbildungen und Mitarbeiterbeteiligung, die Punkte bringen, habe er den Beschäftigten ebenso angeboten wie Elektro-Fahrräder und eine Ladestation auf dem Gelände. Beides sei in der Belegschaft aber auf wenig Interesse gestoßen. Nachteile hatte er auch, weil die erste Etage seines Firmensitzes nicht barrierefrei ist. „Wie sollen wir das als Mieter beeinflussen“, fragt Meyer und weist auch andere Kritik zurück: Für die Gemeinwohlbilanz sollte er die Rezepturen seiner Duftöle komplett offen legen. Mehr als die Inhaltsstoffe wollte er jedoch nicht verraten. Die Rezepturen seien sein wichtigstes Kapital. Taoasis verzichtete deshalb sogar auf den Export der Produkte in die USA. Auch der US-Zoll hatte die genaue Zusammensetzung der Öle und Parfüms verlangt.
Tatsächlich kann man sich über die Gemeinwohl-Kriterien und ihre Bewertung im Einzelnen streiten. Die Frage ist, wer sie in welchem Verfahren festlegt. Felber verweist ebenso wie Reinhard Raffenberg von der Gemeinwohlstiftung auf einen „demokratischen Prozess“, in dem diese laufend weiter entwickelt werden sollen. Schließlich beschlössen die Parlamente auch andere Gesetze, an die sich die Wirtschaft halten müsse. Auch Inhalte und Gestalt der heute üblichen Finanz-Bilanzen habe der Gesetzgeber im Handelsgesetzbuch festgelegt. „Wir müssen uns entscheiden, ob wir einen reinen Kapitalismus haben wollen oder eine Wirtschaftsordnung, welche Vermögen und Produktivitätsgewinne gerechter verteilt und an der sich alle beteiligen können.
Durchsetzen wird sich die Gemeinwohlökonomie nur, wenn die Politik nachweislich gemeinwohl-orientierten Unternehmen Vorteile einräumt. Christian Felber empfiehlt für erfolgreich gemeinwohlbilanzierte Betriebe zum Beispiel Steuerermäßigungen, Vorrang bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und günstigere Kredite. Damit würden schließlich nur einige Nachteile ausgeglichen, die sie für ihre Rücksichtnahme auf die Allgemeinheit auf sich nehmen. Mit der Einführung eines Preises auf den CO2 Ausstoß ist zumindest ein Anfang gemacht.
Info:
Inzwischen unterstützen mehr als 2000 Unternehmen, Städte und Gemeinden die Gemeinwohlökonomie. Mehr als 600 haben schon eine oder mehrere Gemeinwohlbilanzen erstellt.
Zum Beispiel: die Sparda-Bank München, der Outdoorkleidungshersteller VauDe, der Detmolder Natur-Duftstoff-Hersteller Taoasis, der in der Region eigenen Bio-Lavendel anbaut und verarbeitet, mehrere Hotels und Tagungshäuser des Verbunds Green Pearls, die Tageszeitung taz, die Bio-Bäckerei Märkisches Landbrot, der Bäderbetrieb der Stadtwerke München, der Tiefkühlkosthersteller Ökofrost, die Werbeagentur Werk Zwei in Bielefeld, mehrere Betriebe des Landes Baden-Württemberg (dort steht die Gemeinwohlökonomie als Ziel im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung) die Zahnarztpraxis Mattias Eigenbrodt in Berlin, mehrere Gemeinden in Österreich.
Das Verfahren:
1. Die Unternehmen erstellen eine Selbsteinschätzung nach der Bewertungsmatrix der Gemeinwohlökonomie
2. Beantragen dann die Bilanzierung beim Dachverband ecogood.org
3. Anschließend durchlaufen sie das Audit und bekommen ein Testat über ihre Punktzahl.
Alternativ kann die Bilanz in einer Peer-Gruppe mit anderen Unternehmen und unter Begleitung einer Berater*in erstellt werden.
Kosten für eine Bilanzierung: je nach Unternehmensgröße und Verfahren zwischen 3.000 und 20.000 Euro.
Links:
ecogood.org
Stiftung Gemeinwohlökonomie
Gemeinwohlregion Kreis Höxter
Wirtschaftsförderung Kreis Höxter
Den Beitrag deutscher Organisationen und Unternehmen zum Gemeinwohl hat der Gemeinwohlatlas nach den Kriterien „Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt, Lebensqualität und Moral“ untersucht. Platz 1 ging 2019 an die Feuerwehren, Platz 2 ans Technische Hilfswerk THW. gemeinwohlatlas.de