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Die klimafreundliche Kuh


von Martin Auer

Nicht die Kuh, sondern die industrielle Landwirtschaft ist der Klimaschädling, argumentiert die Tierärztin Anita Idel – eine der Lead-Autor:innen des Weltagrarberichts 2008[1] –  in dem gemeinsam mit der Agrarwissenschaftlerin Andrea Beste herausgegebenen Buch „Vom Mythos der klimasmarten Landwirtschaft“[2]. Die Kuh hat unter Klimaschützer:innen einen schlechten Ruf, weil sie Methan rülpst. Das ist tatsächlich schlecht fürs Klima, denn Methan (CH4) heizt die Atmosphäre 25 Mal so stark auf wie CO2. Doch hat die Kuh auch ihre klimafreundlichen Seiten.

Die klimafreundliche Kuh lebt hauptsächlich auf der Weide. Sie frisst Gras und Heu und kein Kraftfutter. Die klimafreundliche Kuh ist nicht auf Extremleistung hochgezüchtet. Sie gibt nur 5.000 Liter Milch pro Jahr statt 10.000 der 12.000. Denn so viel schafft sie allein mit Gras und Heu als Futter. Pro Liter Milch, den sie gibt, rülpst die klimafreundliche Kuh tatsächlich mehr Methan als die Hochleistungskuh. Doch diese Rechnung erzählt  nicht die ganze Geschichte. Die klimafreundliche Kuh frisst dem Menschen nicht Getreide, Mais und Soja weg. 50 Prozent der globalen Getreideernte landen heute im Futtertrog von Kühen, Schweinen und Geflügel. Darum ist es auch vollkommen richtig, dass wir unseren Konsum von Fleisch und Milchprodukten reduzieren müssen. Denn für diese ständig wachsenden Mengen an Futterpflanzen werden Wälder abgeholzt und Grasland umgebrochen. Beides sind „Landnutzungsänderungen“, die äußerst klimaschädlich sind. Würden wir Getreide nicht verfüttern, könnte viel weniger Land viel mehr Menschen ernähren. Beziehungsweise könnte man mit weniger intensiven, dafür schonenderen Anbaumethoden arbeiten. Doch die klimafreundliche Kuh frisst Gras, das für Menschen unverdaulich ist. Darum müssen wir auch bedenken, auf welches Fleisch und welche Milchprodukte wir verzichten sollten. Von 1993 bis 2013 wurde zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen der Bestand an Milchkühen mehr als halbiert. Die verbleibenden Kühe produzierten allerdings mehr Milch als 20 Jahre zuvor alle zusammen. Man hatte die klimafreundlichen Kühe abgeschafft, die darauf gezüchtet waren, ihre Leistung wesentlich von Gras und Weide zu erbringen. Geblieben waren die Hochleistungskühe, die auf Kraftfutter von stickstoffgedüngten Äckern angewiesen sind, das zum Teil noch importiert werden muss. Damit gibt es zusätzliche CO2-Quellen beim Transport.

Von der Umwandlung von Gras- in Ackerland zur Produktion von Viehfutter profitieren vor allem die Industrien, die die landwirtschaftlichen Betriebe beliefern oder die Produkte weiterverarbeiten. Also die chemische Industrie mit Saatgut, Mineral- und Stickstoffdünger, Pestiziden, Futtermitteln, Antibiotika, Antiparasitika, Hormonen; die Landmaschinenindustrie, die Stalleinrichtungsfirmen und die Tierzuchtbetriebe; Transportunternehmen, Molkerei-, Schlacht und Lebensmittelkonzerne. Für die klimafreundliche Kuh interessieren sich diese Industrien nicht. Denn an ihr können sie kaum etwas verdienen. Weil sie nicht auf Extremleistung hochgezüchtet ist, lebt die klimafreundliche Kuh länger, wird seltener krank und muss nicht mit Antibiotika vollgepumpt werden. Das Futter der klimafreundlichen Kuh wächst da, wo sie ist und muss nicht von weit her transportiert werden. Der Boden, auf dem das Futter wächst, muss nicht mit diversen energiefressenden Landmaschinen bearbeitet werden. Er braucht keine Stickstoffdüngung und verursacht so keine Lachgasemissionen. Und Lachgas (N2O), das im Boden entsteht, wenn der Stickstoff nicht vollkommen von den Pflanzen aufgenommen wird, ist 300 Mal so klimaschädlich wie CO2. Tatsächlich verursacht Lachgas den größten Beitrag der Landwirtschaft zum Klimawandel. 

Foto: Nuria Lechner

Gräser haben sich über Millionen Jahre gemeinsam mit Rind und Schaf und Ziege und deren Verwandten entwickelt: in Koevolution. Darum ist Weideland von Weidetieren abhängig. Die klimafreundliche Kuh fördert durch ihren Biss das Graswachstum, ein Effekt, den wir vom Rasenmähen kennen. Dabei geschieht das Wachstum vor allem unterirdisch, im Wurzelbereich. Die Wurzeln und Feinwurzeln der Gräser erreichen das Doppelte bis zwanzigfache der oberirdischen Biomasse.  So trägt die Beweidung zur Humusbildung und zur Kohlenstoffspeicherung im Boden bei.  Jede Tonne Humus enthält eine halbe Tonne Kohlenstoff, was die Atmosphäre um 1,8 Tonnen CO2 entlastet. Insgesamt leistet diese Kuh mehr für das Klima, als sie durch das Methan, das sie rülpst, schadet. Je mehr Graswurzeln, umso besser kann der Boden Wasser speichern. Das dient dem Hochwasserschutz und der Widerstandsfähigkeit gegen Dürre. Und gut durchwurzelter Boden wird nicht so schnell weggespült. So hilft die klimafreundliche Kuh, die Bodenerosion zu verringern und Biodiversität zu erhalten. Freilich nur, wenn sich die Beweidung in nachhaltigen Grenzen hält. Gibt es zu viele Kühe, kann das Gras nicht schnell genug nachwachsen und die Wurzelmasse nimmt ab. Die Pflanzen, die die Kuh frisst, sind mit Mikroorganismen besetzt. Und die Kuhfladen, die sie hinterlässt, sind ebenfalls mit Bakterien angereichert. So hat sich im Lauf der Evolution eine Interaktion zwischen der ober- und unterirdischen Lebenssphäre der Bakterien entwickelt. Das ist unter anderem ein Grund, warum gerade Rinderexkremente die Bodenfruchtbarkeit besonders fördern. Die fruchtbaren Schwarzerdeböden in der Ukraine, in der Puszta, in der rumänischen Tiefebene, in den deutschen Tieflandbuchten und in vielen anderen Gegenden sind durch jahrausendelange Beweidung entstanden. Heute werden dort im Ackerbau hohe Erträge erzielt, doch die intensive Landwirtschaft entzieht dem Boden den Kohlenstoffgehalt in teilweise alarmierendem Tempo. 

40 Prozent der bewachsenen Landoberfläche der Erde sind Grasland. Neben dem Wald ist es das größte Biom der Erde. Seine Lebensräume reichen von extrem trocken bis extrem nass, von extrem heiß bis extrem kalt. Auch oberhalb der Baumgrenze gibt es noch Grasland, das beweidet werden kann. Grasgesellschaften sind auch kurzfristig sehr anpassungsfähig, denn sie sind Mischkulturen. Die Samen im Boden sind vielfältig und können je nach Umweltbedingungen keimen und wachsen. So sind Grasgesellschaften sehr widerstandsfähige – „resiliente“ – Systeme. Auch ihre Vegetationsperiode beginnt früher und endet später als die von Laubbäumen. Bäume bilden mehr Biomasse über der Erde als Gräser. Doch im Boden unter Grasland ist viel mehr Kohlenstoff gespeichert als in Waldböden. Als Viehweide macht Grasland zwei Drittel der gesamten landwirtschaftliche genutzten Fläche aus und bietet einem Zehntel der Weltbevölkerung die entscheidende Lebensgrundlage. Feuchtwiesen, Almen, Steppen und Savannen zählen nicht nur zu den größten Kohlenstoffspeichern, sondern bieten auch die größte Nährstoffbasis zur Proteinbildung auf der Erde. Denn der größte Teil der globalen Landfläche ist zur langfristigen Ackernutzung nicht geeignet. Für die menschliche Ernährung lassen sich diese Flächen nachhaltig nur als Weideland nutzen. Würden wir gänzlich auf tierische Produkte verzichten, würden wir die wertvolle Leistung der klimafreundlichen Kuh für die Erhaltung und Verbesserung der Böden, für Kohlenstoffspeicherung und Erhaltung der Biodiversität verlieren. 

Die 1,5 Milliarden Rinder, die heute unseren Planeten bevölkern, sind ganz sicher zu viel. Aber wie viele klimafreundliche Kühe könnte es geben? Die Antwort auf diese konkrete Frage finden wir in dieser Studie nicht. Sie könnte wohl nur spekulativ sein. Zur Orientierung kann man sich vor Augen halten, dass um 1900, also vor der Erfindung und dem massenhaften Einsatz von Stickstoffdünger, nur etwas über 400 Millionen Rinder auf der Erde lebten[3]Und noch ein Punkt ist wichtig: Nicht jede Kuh, die sich von Gras ernährt, ist klimafreundlich: 60 Prozent der Grasländer sind mittel oder stark überweidet und von Bodenzerstörung bedroht[4] Auch für die Weidewirtschaft ist ein kluges nachhaltiges Management notwendig. 

Dass Bäume wichtig für den Klimaschutz sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Es wird Zeit,  dass auch dem Ökosystem Grasland die notwendige Aufmerksamkeit zuteil wird.

Titelfoto: Nuria Lechner
Gesichtet: Hanna Faist

[1]    https://www.unep.org/resources/report/agriculture-crossroads-global-report-0

[2]    Idel, Anita; Beste, Andrea (2018): Vom Mythos der klimasmarten Landwirtschaft. oder Warum weniger vom Schlechten nicht gut ist. Wiesbaden: Die Grünen Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament.

[3]    https://ourworldindata.org/grapher/livestock-counts

[4]    Piipponen, J., Jalava, M., de Leeuw, J., Rizayeva, A., Godde, C., Cramer, G., Herrero, M., & Kummu, M. (2022). Global trends in grassland carrying capacity and relative stocking density of livestock. Global Change Biology, 28, 3902– 3919. https://doi.org/10.1111/gcb.16174

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