Nachhaltigkeits-Experte Dirk Messner im Exklusiv-Interview über die globale Wende, die große Transformation – und wie sie das Leben von Wirtschaft und Mensch verändern wird.
Dirk Messner (1962) ist Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und Co-Direktor des Centers for Advanced Studies on Global Cooperation Research/Duisburg. Messner studierte Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre und berät neben der Bundesregierung auch die chinesische Regierung, die Europäische Union, die Weltbank und andere internationale Organisationen zu Fragen globaler Entwicklung und internationaler Kooperation. Er ist gemeinsam mit dem Klimaforscher John Schellenhuber Co-Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). 2011 veröffentlichte er mit dem WBGU die Studie „Gesellschaftvertrag für eine große Transformation. Der Weg zu einer klimaverträglichen Weltwirtschaft“.
„Wenn alles so bleibt wie es ist, bleibt nichts so wie es war.“
Dirk Messner über die Notwendigkeit der großen Transformation
Herr Messner, warum sind Sie eigentlich so optimistisch?
Vor zwei Dekaden wussten wir, dass eine Veränderung zur Nachhaltigkeit notwendig wird, um Schaden von der Menschheit abzuwenden. Nahezu alle Staats- und Regierungschefs haben das am Ende der großen Weltumwelt- und Entwicklungskonferenz 1992 in Rio unterschrieben. Doch die Möglichkeiten, eine solche Veränderung einzuleiten, sind erst seitdem entstanden. Heute sind alle Elemente der Nachhaltigkeitstransformation da. Die Technologien, um ressourcen- und klimaverträgliches Wirtschaften voranzubringen, die wirtschafts- und innovationspolitischen Konzepte, um neue Weichen zu stellen, eine zunehmend steigende Zahl von Akteuren, die die grüne Transformation bereits vorantreibt: Städte, Unternehmen, manche Regierungen, internationale Organisationen, Forschungsinstitutionen.
Die Nachhaltigkeitswende ist auch finanzierbar. Wir stehen an einem Kipppunkt, an dem die Weichen neu gestellt werden können. Immanuel Kant würde sagen: Die „Bedingungen der Möglichkeit“ für die Transformation haben sich gebildet.
Welche Schritte sind jetzt notwendig?
Interessant ist: Man findet kaum noch Entscheidungsträger, ob in Europa, China, Marokko oder den USA, die der Grunddiagnose, dass eine Nachhaltigkeitstransformation notwendig ist, widersprechen. Damit öffnen sich Fenster für Veränderungen. Aber: Wirtschaftliche und politische Entscheidungsträger, aber auch viele Bürger machen sich Sorgen, ob ein solcher weitreichender Umbau wirklich gelingen kann. Deshalb sind Demonstrationsprojekte sehr wichtig, die zeigen, was möglich ist. Gelingt die deutsche Energiewende, die auf eine radikale Umstellung auf erneuerbare Energieträger hinausläuft, würde dies weltweite Investitionen in grüne Energieversorgungssysteme zur Folge haben. Architekten, die Nullenergiegebäude zu vertretbaren Kosten entwickeln, können den Städtebau in eine neue Richtung lenken. Die erste Generation von Nullemissionsautos ist im Entstehen. Solche Pionierleistungen sind entscheidend, um die Transformation zu beschleunigen. Zudem könnte die Politik viel tun. Am wichtigsten ist ein Preis für Treibhausgasemissionen, um die richtigen Preissignale zu setzen. So muss der Emissionshandel endlich reformiert werden, damit die Preise für Treibhausgasemissionen die Schäden ausdrücken, die diese mit sich bringen.
Wie kann die Politik motiviert werden?
Die Nachhaltigkeitstransformation ist kein Nischenthema mehr, sie findet Anhänger in allen Parteien und Bevölkerungsschichten. Wir Bürger müssen für diesen Wechsel streiten. Regierungen müssen zudem verstehen, dass in jedem Fall eine große Transformation in Gang ist. Wenn alles so bleibt, wie es ist, bleibt nichts so, wie es war. Wenn wir unseren ressourcen- und treibhausgasintensiven Wachstumspfad fortsetzen, werden wir uns ab 2030 an Veränderungen im Erdsystem anpassen müssen, die immer schwerer beherrschbar würden: Wasser- und Bodenknappheiten, Meeresspiegelanstieg, Extremwetterereignisse, Auftauen des Permafrostes mit schwer vorhersehbaren Folgen, Abschmelzen des Grönlandeisschildes – das ist ein globales Krisenszenario. Die Alternative ist, den Übergang zu einer klimaverträglichen und ressourceneffizienten Wirtschaft einzuleiten. Ländern, denen dies zuerst gelingt, werden zu den führenden Ökonomien der kommenden Dekaden werden. Darüber wird zum Beispiel in China viel diskutiert: Die nächste große Innovationswelle in der Weltwirtschaft wird grün sein.
„Der Übergang zu einer klimaverträglichen Wirtschaft impliziert einen weitreichenden Strukturwandel, der Gewinner und Verlierer erzeugen wird.“, Dirk Messner über Gegner der Nachhaltigkeit
Gefährdet die „grüne Transformation“ die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen?
Diese Frage reflektiert zunächst eine berechtigte Sorge darüber, ob kostenintensive Klimaschutzinvestitionen und -politiken zu Wettbewerbsverzerrungen, zum Beispiel zwischen Stahlwerken in Deutschland und in Russland, führen könnten. Infolgedessen wären Produktionsverlagerungen denkbar, wodurch dem Weltklima nicht geholfen wäre. Drei Aspekte sind hier wichtig: Erstens müssen Klimaschutzpolitiken energieintensiven Unternehmen Zeit geben, um sich klimaverträglich zu modernisieren. Im europäischen Emissionshandelssystem haben die Unternehmen in Form von kostenlosen Emmissionszertifikaten eher zu viel Zeit zur Verfügung gestellt bekommen, um sich auf eine klimaverträgliche Produktion umzustellen. Zweitens können Anreize zur Klimaverträglichkeit neue zukunftsfähige Wettbewerbsvorteile schaffen. Diese ergäben sich, wenn es deutschen oder europäischen Stahlunternehmen gelänge, Pioniere einer klimaverträglichen Stahlproduktion zu werden. Drittens impliziert der Übergang zu einer klimaverträglichen Wirtschaft einen weitreichenden Strukturwandel, der Gewinner, etwa Anbieter erneuerbarer Energien, und Verlierer wie Kohlekraftwerksbetreiber erzeugen wird. Die Transformation zur Nachhaltigkeit hat deswegen verständlicherweise viele Gegner(innen) in High-Carbon-Sektoren.
Wird der Bürger und Konsument im Rahmen der Transformation verzichten müssen?
Technologische Effizienzsprünge werden ein Teil der Lösung sein: klimaverträgliche Energie- und Mobilitätssysteme, ressourceneffizient Industrieproduktion. Doch wir werden auch unsere Lebensstile und individuellen Kaufentscheidungen überprüfen müssen. Solange Langstreckenflüge nicht klimaverträglich möglich sind, überschreiten wir mit jedem Transatlantikflug das jährliche Treibhausgasbudget, das jedem Erdenbürger eigentlich zur Verfügung stünde. Wir können Autos kaufen, die wenig Treibhausgase ausstoßen, und Produkte, die langlebiger sind. Wir können versuchen, im Alltag zu vermeiden, dass 40 Prozent der Lebensmittel, die produziert werden, im Müll landen. Wir können aber auch über Wohlfahrtskonzepte nachdenken, die nicht nur auf das Bruttosozialprodukt pro Kopf ausgerichtet sind. Viele Untersuchungen zeigen, dass Menschen, sind erst einmal die Grundbedürfnisse gedeckt, vor allem dann zufrieden sind, wenn Vertrauensbeziehungen in ihrem Umfeld, soziale Netzwerke, Sicherheit in ihren Gesellschaften, Verlässlichkeit der öffentlichen Institutionen, Zugang zu Bildung, Gesundheit sowie soziale Fairness existieren. Wir Konsumenten sollten uns also vor allem auch als Bürger sehen, deren Glück nicht nur von Konsumchancen abhängt, sondern ebenso von den skizzierten Bedingungen eines guten Lebens.
Ist die Finanzierung der Transformation wirklich möglich?
Die meisten Studien zeigen, dass die Weltgemeinschaft um die zwei Prozent des globalen Bruttosozialprodukts in die Nachhaltigkeitstransformation investieren müsste und dass die Kosten eines ungebremsten Umweltwandels deutlich höher ausfielen als präventives Handeln. Es werden jedoch signifikante Investitionen im Vorfeld notwendig sein, um beispielsweise klimaverträgliche Energie- und Städteinfrastrukturen aufzubauen. Im Prozess der Transformation geht es vor allem darum, das Vermögen von Gesellschaften, Zukunftsinteressen und –fähigkeiten gegen mächtige Vergangenheits- und Gegenwartsinteressen durchzusetzen. Investitionen in neue klimaverträgliche Infrastrukturen funktionieren wie Investitionen in den Aufbau von Bildungsinvestitionen. Sie kosten zunächst viel Geld, wirken sich aber zukünftig in jedem Fall positiv auf unsere Gesellschaften aus.
Kann sich die grüne Wende gegen die Krise durchsetzen?
Dies ist eine offene Frage. Insbesondere in den verschuldeten westlichen Industriestaaten ist es derzeit schwierig, die notwendigen Investments zum Aufbau klimaverträglicher Infrastrukturen zu mobilisieren. Nur in wenigen Ländern werden diese Diskussionen um mehr Wachstum zur Verringerung der hohen Arbeitslosigkeit aktiv mit einem grünen Umbau der Ökonomien verbunden. Es wird sehr wichtig sein, mit der Energiewende in Deutschland und den dänischen Low-Carbon-Strategien zu zeigen, dass Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Nachhaltigkeit keine Gegensätze sein müssen. In Spanien und anderen Krisenstaaten sind grüne Investitionen ins Stocken geraten. Die Krise kann also dazu führen, dass sich fossile Wachstumsmuster verlängern, was wiederum Pfadabhängigkeiten schaffen würde, die den Umbau in Richtung Klimaverträglichkeit zukünftig schwieriger und teurer machen. Einiges spricht dafür, dass die Schwellenländer die Transformation eher bewerkstelligen könnten als die derzeit hoch verschuldeten OECD-Staaten. China verfügt über hohe Devisenreserven, aus denen die notwendigen Investments in Low-Carbon-Sektoren finanziert werden könnten. Die Schwellenländer befinden sich zudem aufgrund ihrer hohen wirtschaftlichen Dynamik ohnehin in einem sozioökonomischen Transformationsmodus. In einem solchen Kontext könnte eine Orientierung in Richtung Nachhaltigkeit leichter gelingen als in krisengestressten und reformmüden OECD-Staaten.
Was kann jeder Einzelne tun?
Ich habe schon einiges zu dem gesagt, was wir als Konsumenten konkret tun können. Doch zu oft wird die Nachhaltigkeitsdebatte als eine Verzichtsdiskussion geführt, die abschreckt. Doch letztlich geht es darum, dass wir alle uns darum bemühen, einen Lebensstil zu entwickeln, der es den bald neun Milliarden Menschen ermöglicht, ein würdiges, sicheres Leben in demokratischen Gesellschaften zu führen. Es geht um ein neues Weltbild, um eine Veränderung unseres Denkens, um eine kulturelle Zivilisationsleistung. Zunächst ist Realismus gefragt – wir müssen die Grenzen des Erdsystems akzeptieren, innerhalb derer dauerhaft menschliche Entwicklung erreicht werden kann. Alles andere wäre verantwortungslos.
Dann geht es um soziale, politische und ökonomische Innovationen, also Kreativität und Aufbruch, um nachhaltige Gesellschaften zu schaffen. Wenn man engagierten Architekten dabei zuschaut, wie sie klimafreundliche Städte neu erfinden, bekommt man ein Gefühl dafür, dass Klimaverträglichkeit wenig mit „Verzicht“ und viel mit Gründergeist zu tun hat. Und wir müssen lernen, die langfristigen Folgen unseres Handelns für andere Gesellschaften und viele nächste Generationen zu berücksichtigen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Letztlich geht es darum, dass wir Menschen – im Singular und als Weltgemeinschaft – akzeptieren, dass wir Verantwortung für die Stabilität des Erdsystems übernehmen müssen, denn nur so kann verhindert werden, dass wir in den kommenden Dekaden einen Erdsystemwandel mit ungewissem Ausgang einleiten. Ich vergleiche die Nachhaltigkeitstransformation mit der Epoche der Aufklärung. Damals wurden ebenfalls große Dinge „erfunden“: Menschenrechte, Rechtsstaaten, Demokratie. Immanuel Kant hat den Kern dieser Epoche wunderbar zusammengefasst. Für ihn war die Essenz der Aufklärung die „Veränderung der Denkungsart der Menschen“.