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Der große Umbau 2: Von der Markt- zur Gesellschaftsperspektive | S4F AT


Wie kann der Übergang zu einem klimafreundlichen Leben in Österreich ermöglicht werden? Damit befasst sich der aktuelle Report des APCC „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“. Er betrachtet den Klimawandel nicht aus aus der naturwissenschaftlichen Perspektive, sondern fasst die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften zu dieser Frage zusammen. Dr.in Margret Haderer ist eine der Autor:innen des Reports und war unter anderem verantwortlich für das Kapitel mit dem Titel: „Perspektiven zur Analyse und Gestaltung von Strukturen klimafreundlichen Lebens“. Mit ihr spricht Martin Auer über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven auf die Frage klimafreundlicher Strukturen, die zu unterschiedlichen Problemdiagnosen und auch zu unterschiedlichen Lösungsansätzen führen.

Margret Haderer

Martin Auer: Liebe Margret, erste Frage: Was ist dein Fachgebiet, woran arbeitest du und was war deine Rolle bei diesem APCC Report?

Margret Haderer: Ich bin von der Ausbildung her Politikwissenschaftlerin und habe mich im Kontext meiner Dissertation eigentlich nicht mit Klimawandel beschäftigt, sondern mit der Wohnungsfrage. Seitdem ich nach Wien zurückgekehrt bin – ich war für den PhD an der University of Toronto – in meiner Postdoc-Phase habe ich mich dann dem Klimathema gewidmet, ein Forschungsprojekt, in dem es darum ging, wie Städte auf Klimawandel reagieren, vor allem, was das Regieren von Städten betrifft. Und in diesem Kontext bin ich dann auch vor dem Hintergrund meiner Auseinandersetzung mit umweltpolitischen Themen für den APCC Report angefragt worden. Das war dann eine Zusammenarbeit von circa zwei Jahren. Die Aufgabe für dieses Kapitel mit dem sperrigen Namen war, darzulegen, welche dominanten Perspektiven gibt es denn in den Sozialwissenschaften auf die Gestaltung von Klimawandel. Die Frage, wie kann man Strukturen so gestalten, dass sie klimafreundlich werden, ist ja eine sozialwissenschaftliche Frage. Darauf können Naturwissenschaftler:innen nur bedingt Antwort geben. Also: Wie bewerkstelligt man gesellschaftlichen Wandel, um ein gewisses Ziel zu erreichen.

Martin AuerIhr habt das dann in vier Hauptgruppen unterteilt, diese verschiedenen Perspektiven. Welche wären denn das?

Margret Haderer: Wir haben zu Beginn einmal sehr viele sozialwissenschaftliche Quellen gesichtet und kamen dann darauf, dass vier Perspektiven recht dominant sind: Die Marktperspektive, dann die Innovationsperspektive, die Bereitstellungsperspektive und die gesellschaftliche Perspektive. Diese Perspektiven implizieren jeweils unterschiedliche Diagnosen – Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen in Verbindung mit Klimawandel? – Und eben auch unterschiedliche Lösungsansätze.

Die Marktperspektive

Martin Auer:Was sind die Schwerpunkte dieser verschiedenen theoretischen Perspektiven, die sie voneinander unterscheiden?

Margret Haderer: Die Markt- und die Innovationsperspektive sind eigentlich recht dominante Perspektiven.

Martin Auer:  Dominant heißt jetzt in der Politik, im öffentlichen Diskurs?

Margret Haderer: Ja, im öffentlichen Diskurs, in der Politik, in der Wirtschaft. Die Marktperspektive geht davon aus, dass bei klimaunfreundlichen Strukturen das Problem ist, dass die wahren Kosten, also ökologische und soziale Kosten von klimaunfreundlichem Leben nicht abgebildet sind: in Produkten, wie wir wohnen, was wir essen, wie Mobilität gestaltet wird.

Martin Auer: Also das ist alles nicht eingepreist, das ist im Preis nicht sichtbar? Das heißt, die Gesellschaft zahlt sehr viel.

Margret Haderer: Genau. Es zahlt die Gesellschaft sehr viel, aber es wird auch sehr viel auf zukünftige Generationen externalisiert oder in Richtung globaler Süden. Wer trägt die Umweltkosten? Das sind oft nicht wir, sondern Leute, die woanders wohnen.

Martin Auer: Und wie will die Marktperspektive da jetzt eingreifen?

Margret Haderer: Die Marktperspektive schlägt vor, Kostenwahrheit zu schaffen, indem externalisierte Kosten eingepreist werden. CO2-Bepreisung wäre ein ganz konkretes Beispiel dafür. Und da ist dann die Herausforderung von der Umsetzung her: Wie berechnet man die CO2-Emissionen, reduziert man es überhaupt nur auf CO2 oder preist man soziale Folgen ein. Innerhalb dieser Perspektive gibt es unterschiedliche Ansätze, aber es geht in der Marktperspektive darum, Kostenwahrheit zu schaffen. Das funktioniert in manchen Bereichen besser als in anderen. Das funktioniert bei Lebensmitteln vielleicht besser als in Bereichen, wo die Logik der Bepreisung an sich problematisch ist. Also wenn man jetzt Arbeit heranzieht, die eigentlich nicht gewinnbringend orientiert ist, zum Beispiel Pflege, wie schafft man da denn Kostenwahrheit? Der Wert von Natur wäre ein Beispiel, kann man Erholung gut einpreisen?

Martin Auer: Also da sind wir jetzt schon bei der Kritik der Marktperspektive?

Margret Haderer: Ja. Wir schauen ja bei jeder Perspektive: Was sind die Diagnosen, was sind die Lösungsansätze, und was sind die Grenzen. Es geht aber nicht um ein gegenseitiges Ausspielen der Perspektiven, sondern es braucht wahrscheinlich die Kombination von allen vier Perspektiven.

Martin Auer: Das nächste wäre dann die Innovationsperspektive?

Die Innovationsperspektive

Margret Haderer: Genau. Da haben wir sehr viel darüber gestritten, ob sie nicht eh Teil der Marktperspektive ist. Diese Perspektiven sind auch nicht scharf zu trennen. Man versucht halt, begrifflich etwas zu fassen, das in der Realität nicht trennscharf gegeben ist.

Martin Auer: Aber es geht dabei nicht nur um technische Innovationen?

Margret Haderer: Innovation wird zumeist auf technische Innovation reduziert. Wenn wir von manchen Politiker:innen gesagt bekommen, dass die wahre Bearbeitung der Klimakrise in mehr technologischer Innovation liegt, das ist eine weit verbreitete Perspektive. Die ist auch recht kommod, weil sie verspricht, dass man möglichst wenig ändern muss. Automobilität: Weg vom Verbrennungsmotor (jetzt wackelt dieses „weg“ wieder etwas) hin zur E-Mobilität bedeutet, ja, man muss auch Infrastrukturen ändern, man muss sogar relativ viel ändern, wenn man alternative Energie zur Verfügung stellen möchte, aber Mobilität bleibt für den Endkonsumenten, die Endkonsumentin so wie sie war.

Martin Auer: Jede Familie hat eineinhalb Autos, nur sind sie halt jetzt elektrisch.

Margret Haderer: Ja. Und da ist die Marktperspektive recht nahe, weil sie auf das Versprechen setzt, dass technologische Innovationen sich auf dem Markt durchsetzen, sich gut verkaufen, und dass man da so etwas generieren könnte wie grünes Wachstum. Das klappt nicht so gut, weil es Rebound-Effekte gibt. Das heißt, dass technologische Innovationen meistens Folgeeffekte hervorrufen, die dann häufig doch auch wieder klimaschädlich sind. Um bei E-Autos zu bleiben: Die sind ressourcenintensiv in der Produktion, und das heißt, dass man da bei Emissionen herunterkommt, wird ziemlich sicher nicht eingelöst. Jetzt gibt es innerhalb der Innovationsdebatte auch die, die sagen: Wir müssen weggehen von diesem engen Begriff von technologischer Innovation, hin zu einem weiteren Begriff, nämlich sozial-technologischer Innovationen. Was ist der Unterschied? Bei der technischen Innovation, die nahe der Marktperspektive ist, herrscht die Vorstellung, das grüne Produkt setzt sich durch – idealerweise – und dann haben wir eben grünes Wachstum, am Wachstum selber müssen wir nichts ändern. Die Leute, die für sozio-technische oder sozial-ökologische Innovationen eintreten, sagen, wir müssen viel mehr darauf schauen, welche gesellschaftlichen Effekte wir produzieren wollen. Wenn wir klimafreundliche Strukturen haben wollen, dann können wir nicht nur darauf schauen, was sich jetzt am Markt durchsetzt, weil Marktlogiken Wachstumslogiken sind. Wir brauchen einen erweiterten Innovationsbegriff, der die ökologischen und gesellschaftlichen Effekte viel stärker mitdenkt.

Martin Auer: Also zum Beispiel nicht nur andere Baumaterialien verwenden, sondern auch anders wohnen, andere Wohnstrukturen, mehr Gemeinschaftsräume in Häusern, so dass man mit weniger Material auskommt, eine Bohrmaschine fürs ganze Haus anstatt eine für jede Familie.

Margret Haderer: Genau, das ist ein ganz tolles Beispiel dafür, dass man durch andere Alltagspraktiken ressourcenextensiver lebt, konsumiert, mobil ist. Und dieses Wohnbeispiel ist ein super Beispiel. Man ging lange Zeit davon aus, dass das Passivhaus auf der grünen Wiese die Zukunft der Nachhaltigkeit ist. Es ist eine technologische Innovation, aber es wurde vieles nicht mitgedacht: Die grüne Wiese wurde lange nicht mitgedacht, oder welche Mobilität impliziert das – das geht meistens nur mit Auto oder zwei Autos. Soziale Innovation setzt sich normative Ziele, wie klimafreundliche Strukturen, und versucht dann eben Technologien in Kombination mit Praktiken in den Vordergrund zu stellen, die dieses normative Ziel eher versprechen zu erreichen. Suffizienz spielt da auch immer eine Rolle. Also nicht unbedingt neu bauen, sondern den Bestand sanieren. Gemeinschaftsräume teilen und dafür die Wohnungen kleiner machen, das wäre eine klassische soziale Innovation.

Die Bereitstellungsperspektive

Dann gibt es die nächste Perspektive, die Bereitstellungsperspektive. Das war auch gar nicht so einfach, sich darauf zu einigen. Die Bereitstellungsperspektive grenzt an der sozialen Innovation an, die sich eben normativen Zielen verschreibt. Die Nachbarschaft besteht darin, dass auch die Bereitstellungsperspektive das Gemeinwohl oder den gesellschaftlichen Nutzen von etwas befragt und nicht automatisch davon ausgeht, dass das, was sich am Markt durchsetzt, auch gesellschaftlich gut ist.

Martin Auer: Bereitstellung ist jetzt auch so ein abstrakter Begriff. Wer stellt wem was bereit?

Margret Haderer: Bei der Bereitstellung stellt man sich die Grundsatzfrage: Wie kommen denn die Güter, die Dienstleistungen zu uns? Was gibt es da noch alles jenseits vom Markt? Wenn wir Güter und Dienstleistungen konsumieren, das ist nie nur der Markt, sondern da gibt es noch ganz viel öffentliche Infrastruktur dahinter. Beispielsweise die Straßen, die öffentlich gebaut werden, bringen uns die Güter aus XYZ, die wir dann konsumieren. Diese Perspektive geht davon aus: Ökonomie ist größer als der Markt. Da gibt es auch ganz viel unbezahlte Arbeit, meistens von Frauen erledigt, und der Markt würde gar nicht funktionieren, wenn es nicht auch weniger marktförmige Bereiche gäbe, wie zum Beispiel eine Universität. Die kann man selten profitorientiert führen, auch wenn es solche Tendenzen gibt.

Martin Auer: Also Straßen, das Stromnetz, Kanalisation, Müllabfuhr…

Margret Haderer: …Kindergärten, Altenheime, öffentlicher Verkehr, medizinische Versorgung und so weiter. Und vor diesem Hintergrund stellt sich eine grundsätzlich politische Frage: Wie gestalten wir denn die öffentliche Versorgung? Welche Rolle spielt der Markt, welche Rolle soll er spielen, welche soll er nicht spielen? Was wären die Vorteile und Nachteile von einer verstärkt öffentlichen Versorgung? Diese Perspektive nimmt den Staat oder auch die Stadt ins Visier, nicht nur als jemand, der Marktbedingungen schafft, sondern der Gemeinwohl immer auf die eine oder andere Weise gestaltet. Beim Gestalten von klimaunfreundlichen oder klimafreundlichen Strukturen ist immer auch politisches Gestalten dabei. Eine Problemdiagnose ist: Wie wird Daseinsvorsorge verstanden? Es gibt Arbeitsformen, die sind gesellschaftlich total relevant, wie zum Beispiel Pflege, und sind eigentlich ressourcenextensiv, genießen aber wenig Anerkennung.

Martin Auer: Ressourcenextensiv heißt: sie brauchen wenig Ressourcen? Also das Gegenteil von ressourcenintensiv?

Margret Haderer: Genau. Diese Arbeitsformen werden aber, wenn die Marktperspektive im Fokus ist, oft schlecht bewertet. Man kriegt schlecht bezahlt in diesen Bereichen, man kriegt wenig soziale Anerkennung. Pflege ist so ein klassisches Beispiel. Die Bereitstellungsperspektive hebt hervor, dass Tätigkeiten wie die der Supermarktkassierin oder des Pflegers für die gesellschaftliche Reproduktion total wichtig sind. Und vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Müsste man das nicht eigentlich neu bewerten, wenn klimafreundliche Strukturen das Ziel sind? Wäre es nicht wichtig, Arbeit neu zu denken vor dem Hintergrund: Was macht das eigentlich für die Gemeinschaft?

Martin Auer: Man kann viele Bedürfnisse, für die wir Dinge kaufen, um sie zu befriedigen, auch anders befriedigen. Ich kann mir so ein Heimmassagegerät kaufen, oder ich kann zu einem Masseur gehen. Der eigentlich Luxus ist ja der Masseur. Und durch die Bereitstellungsperspektive könnte man die Wirtschaft mehr in diese Richtung lenken, dass wir Bedürfnisse weniger durch materielle Güter, sondern durch persönliche Dienstleistungen ersetzen.

Margret Haderer: Ja genau. Oder wir können uns Swimmingpools anschauen. In den letzten Jahren gab es die Tendenz, vor allem am Land, dass jeder seinen oder ihren eigenen Swimmingpool im Garten hat. Wenn man klimafreundliche Strukturen schaffen will, braucht es eigentlich eine Gemeinde, eine Stadt oder einen Staat, der dem eher Einhalt gebietet, weil das sehr viel Grundwasser abzieht, und ein öffentliches Schwimmbad zur Verfügung stellt.

Martin Auer: Also ein gemeinschaftliches.

Margret Haderer: Manche sprechen von gemeinschaftlichem Luxus als Alternative zum privaten Luxus.

Martin Auer: Man unterstellt ja der Klimagerechtigkeitsbewegung immer, dass sie zur Askese neigt. Ich glaube, wir müssen das wirklich betonen, dass wir Luxus wollen, aber eine andere Art von Luxus. Also gemeinschaftlicher Luxus ist ein sehr schöner Begriff.

Margret Haderer: In Wien wird ja sehr viel öffentlich zur Verfügung gestellt, Kindergärten, Schwimmbäder, Sportstätten, öffentliche Mobilität. Wien wird von außen ja immer stark bewundert.

Martin Auer: Ja, schon in der Zwischenkriegszeit war Wien da vorbildlich, und das war ja auch politisch bewusst so gestaltet. Mit den Gemeindebauten, Parks, gratis Kinderfreibädern, und da stand eine ganz bewusste Politik dahinter.

Margret Haderer: Und die ja auch sehr erfolgreich war. Wien kriegt ja immer wieder Preise als Stadt mit hoher Lebensqualität, und kriegt diese Preise nicht, weil das alles privat zur Verfügung gestellt wird. Die öffentliche Bereitstellung hat einen großen Einfluss auf die hohe Lebensqualität in dieser Stadt. Und sie ist dann oft auch günstiger, über längere Zeit betrachtet, als wenn man alles dem Markt überlässt und danach sozusagen die Scherben aufkehren muss. Klassisches Beispiel: die USA haben ein privatisiertes Gesundheitssystem, und kein anderer Staat in der Welt gibt so viel für die Gesundheit aus wie die USA. Die haben relativ hohe öffentliche Ausgaben trotz der Dominanz von privaten Playern. Das ist einfach kein sehr zielgerichtetes Ausgeben.

Martin Auer: Also die Bereitstellungsperspektive würde bedeuten, dass man die Bereiche mit öffentlicher Versorgung auch noch weiter ausbaut. Da hat dann der Staat oder die Gemeinde auch wirklich Einfluss, wie das gestaltet wird. Ein Problem ist halt: Straßen werden zwar öffentlich bereitgestellt, aber wir bestimmen nicht darüber, wo Straßen gebaut werden. Siehe Lobautunnel zum Beispiel.

Margret Haderer: Ja, aber wenn man über den Lobautunnel abstimmen würde, wäre wahrscheinlich ein großer Teil für den Bau des Lobautunnels.

Martin Auer: Das ist schon möglich, da spielen ja sehr viele Interessen hinein. Ich glaube trotzdem, dass Menschen in demokratischen Prozessen zu vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn die Prozesse nicht beeinflusst werden durch Interessen, die das zum Beispiel sehr viel Geld in Werbekampagnen hineinstecken.

Margret Haderer: Da würde ich widersprechen. Demokratie, ob repräsentativ oder partizipatorisch, geht nicht immer zu Gunsten von klimafreundlichen Strukturen aus. Und mit dem muss man sich wahrscheinlich auch arrangieren. Demokratie ist keine Garantie für klimafreundliche Strukturen. Wenn man jetzt abstimmen würde über den Verbrennungsmotor – da gab’s jetzt eine Umfrage in Deutschland – wären angeblich 76 Prozent gegen das Verbot. Demokratie kann klimafreundliche Strukturen beflügeln aber auch untergraben. Auch der Staat, die öffentliche Hand, kann klimafreundliche Strukturen fördern, aber die öffentliche Hand kann auch klimaunfreundliche Strukturen befördern oder zementieren. Die Geschichte des Staates ist eine, die in den letzten Jahrhunderten fossile Energie immer gefördert hat. Also sowohl Demokratie als auch der Staat als Institution kann sowohl ein Hebel sein als auch ein Bremser. Das ist bei der Bereitstellungsperspektive auch wichtig, dass man dem entgegenwirkt, dass man glaubt, immer wenn Staat drin ist, ist es gut aus einer Klimaperspektive. Historisch gesehen war’s nicht so, und darum kommen manche sehr schnell darauf, dass wir mehr direkte Demokratie brauchen, aber das ist auch kein Automatismus, dass das zu klimafreundlichen Strukturen führt.

Martin Auer: Das ist sicher kein Automatismus. Ich glaube, es hängt sehr stark davon ab, welchen Einblick man hat. Es fällt doch auf, dass wir in Österreich ein paar Gemeinden haben, die weitaus klimafreundlicher agieren als der Staat als Ganzes. Je weiter nach unten es geht, desto mehr haben die Leute Einblick, da können sie die Folgen von der einen oder anderen Entscheidung besser abschätzen. Oder auch Kalifornien ist weitaus klimafreundlicher als die USA als Ganzes.

Margret Haderer: Für die USA stimmt es, dass Städte und auch Staaten wie Kalifornien oft Vorreiterrollen spielen. Aber wenn man auf Umweltpolitik in Europa schaut, ist eigentlich der supranationale Staat, also die EU, die Organisation, die am meisten vorgibt.

Martin Auer: Aber wenn ich mir jetzt zum Beispiel den Klimarat der Bürger:innen anschaue, die sind doch auf sehr gute Ergebnisse gekommen und haben sehr gute Vorschläge gemacht. Das war halt ein Prozess, wo man nicht einfach abgestimmt hat, sondern wo man mit wissenschaftlicher Beratung zu Entscheidungen gekommen ist.

Margret Haderer: Ich will jetzt nicht gegen partizipatorische Prozesse plädieren, aber es müssen auch Entscheidungen getroffen werden. Beim Verbrennungsmotor wäre es halt gut gewesen, wenn das jetzt auf EU-Ebene beschlossen worden wäre und dann in die Umsetzung hätte gehen müssen. Ich glaube, es braucht ein Sowohl-als-auch. Es braucht politische Entscheidungen wie ein Klimaschutzgesetz, die dann auch in Recht gegossen werden, und es braucht natürlich auch Partizipation.

Die Gesellschaftsperspektive

Martin Auer: Damit wären wir schon bei der Gesellschafts- und Naturperspektive.

Margret Haderer: Ja, die stand primär in meiner Verantwortung, und da geht es um Tiefenanalysen. Wie sind diese Strukturen, die sozialen Räume, in denen wir uns bewegen, überhaupt so geworden wie sie geworden sind, wie sind wir eigentlich in die Klimakrise reingekommen? Das geht also jetzt tiefer als „zu viel Treibhausgase in der Atmosphäre“. Die Gesellschaftsperspektive fragt auch geschichtlich, wie wir da hingekommen sind. Da sind wir mitten drin in der Geschichte der Moderne, die sehr europazentriert war, der Geschichte von Industrialisierung, Kapitalismus und so weiter. Da kommen wir auch in die „Anthropozän“-Debatte. Die Klimakrise hat eine lange Geschichte, aber es gab eine große Beschleunigung nach dem zweiten Weltkrieg mit der Normalisierung von fossiler Energie, von Automobilität, Zersiedelung et cetera. Das ist eine total kurze Geschichte. Es sind Strukturen entstanden, die expansiv waren, ressourcenintensiv und sozial ungerecht, auch in globaler Hinsicht. Das hat viel zu tun mit dem Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg, mit Fordismus1, dem Etablieren von Konsumgesellschaften, getrieben von fossiler Energie. Diese Entwicklung ging auch einher mit Kolonisierung, mit Extraktion2 in anderen Gebieten. Also das war nie gleich verteilt. Was hier als guter Lebensstandard erarbeitet wurde, war von den Ressourcen her nie universalisierbar, Das gute Leben mit Einfamilienhaus und Auto braucht sehr viele Ressourcen von anderswo, dass es irgendwo jemand anderem eigentlich nicht so gut geht, und hat auch eine Geschlechterperspektive. Das „Anthropozän“ ist jetzt nicht der Mensch an sich. „Der Mensch“ [der für das Anthropozän verantwortlich ist] lebt im globalen Norden und ist vor allem männlich. Das Anthropozän beruht eben auf Geschlechterungleichheiten und globalen Ungleichheiten. Die Auswirkungen der Klimakrise sind ungleich verteilt, aber auch die Verursachung der Klimakrise. Da war nicht „der Mensch an sich“ beteiligt. Man muss genau hinschauen, welche Strukturen dafür verantwortlich sind, dass wir dort sind, wo wir sind. Da geht es nicht um Moralisieren. Man erkennt aber, dass für die Bewältigung der Klimakrise immer auch Gerechtigkeitsfragen bestimmend sind. Gerechtigkeit zwischen Generationen, Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen und globale Gerechtigkeit.

Martin Auer: Auch innerhalb des globalen Südens und innerhalb des globalen Nordens haben wir große Ungleichheiten. Da gibt es Menschen, für die der Klimawandel wenig problematisch ist, weil sie sich gut davor schützen können.

Margret Haderer: Zum Beispiel mit Klimaanlagen. Die kann sich nicht jeder leisten, und sie verschärfen noch die Klimakrise. Ich kann es mir kühler gestalten, aber ich verbrauche mehr Energie und die Kosten trägt wieder wer anderer.

Martin Auer: Und ich heize noch direkt die Stadt auf. Oder ich kann es mir leisten, in die Berge zu fahren, wenn’s zu heiß wird oder ganz wo anders hinzufliegen.

Margret Haderer: Zweitwohnsitz und so, ja.

Martin Auer: Kann man eigentlich sagen, dass bei diesen verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Menschenbilder eine Rolle spielen?

Margret Haderer: Ich würde von unterschiedlichen Vorstellungen von Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel sprechen.

Martin Auer: Also da gibt es zum Beispiel das Bild des „Homo oeconomicus“.

Margret Haderer: Ja, darüber haben wir auch diskutiert. Also „homo oeconomicus“ wäre typisch für die Marktperspektive. Der Mensch, der gesellschaftlich bedingt ist und auf die Gesellschaft angewiesen ist, auf die Tätigkeit von anderen, wäre dann das Bild der Bereitstellungsperspektive. In der Gesellschaftsperspektive gibt es viele Menschenbilder, da wird es schwieriger. „Homo socialis“ könnte man sagen für die Gesellschaftsperspektive und auch die Bereitstellungsperspektive.

Martin Auer: Wird in den verschiedenen Perspektiven die Frage nach den „eigentlichen Bedürfnissen“ des Menschenwesens gestellt? Was brauchen Menschen wirklich? Ich brauche ja nicht unbedingt eine Gasheizung, ich muss es warm haben, ich brauche Wärme. Ich brauche Nahrung, aber die kann so oder so ausschauen, ich kann Fleisch essen oder Gemüse essen. Im Bereich der Gesundheit sind sich die Ernährungswissenschaften relativ einig, was der Mensch braucht, aber gibt es diese Fragestellung auch in einem breiteren Sinn?

Margret Haderer: Jede Perspektive impliziert Antworten auf diese Frage. Die Marktperspektive geht davon aus, dass wir rationale Entscheidungen treffen, dass unsere Bedürfnisse durch das definiert werden, was wir so kaufen. In der Bereitstellungs- und der Gesellschaftsperspektive geht man davon aus, dass das, was wir als Bedürfnisse betrachten, immer sozial konstruiert ist. Bedürfnisse werden ja auch erzeugt, über Werbung und so weiter. Aber wenn klimafreundliche Strukturen das Ziel sind, dann mag es schon das eine oder andere Bedürfnis geben, das wir uns nicht mehr leisten können. Im Englischen gibt es die schöne Unterscheidung zwischen „needs“ und „wants“ – also Bedürfnisse und Wünsche. Zum Beispiel gibt es eine Studie, dass die durchschnittliche Wohnungsgröße für einen Einfamilienhaushalt unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, die damals schon für luxuriös gegolten hat, dass das eine Größe ist, die man recht gut universalisieren könnte. Aber das, was sich ab den 1990er Jahren im Einfamilienhaussektor abgespielt hat – die Häuser sind ja immer größer geworden – so etwas ist halt nicht universalisierbar.

Martin Auer: Universalisierbar ist glaube ich das richtige Wort. Ein gutes Leben für alle muss eben für alle sein, und da müssen erst einmal die Grundbedürfnisse befriedigt werden.

Margret Haderer: Ja, da gibt es schon Studien dazu, aber auch eine kritische Debatte, ob man das wirklich so festlegen kann. Es gibt soziologische und psychologische Studien dazu, aber da einzugreifen ist politisch schwierig, weil jedenfalls aus der Marktperspektive wäre das ein Eingriff in die individuelle Freiheit. Aber es kann sich einfach nicht jeder einen eigenen Pool leisten.

Martin Auer: Auch das Wachstum wird, glaube ich, sehr unterschiedlich gesehen in den einzelnen Perspektiven. In der Marktperspektive ist das ein Axiom, dass die Wirtschaft wachsen muss, auf der anderen Seite gibt es eben Suffizienz- und Degrowth-Perspektiven, die sagen, es muss auch möglich sein an einem bestimmten Punkt zu sagen: So, jetzt haben wir genug, jetzt reicht’s, mehr muss es nicht sein.

Margret Haderer: Der Akkumulations-Imperativ und auch der Wachstums-Imperativ ist der Marktperspektive eingeschrieben. Aber auch in der Innovations- und in der Bereitstellungsperspektive geht man nicht von einem absoluten Nicht-mehr-Wachsen aus. Hier geht es darum: Wo sollen wir wachsen und wo sollen wir eher nicht wachsen oder auch schrumpfen und „exnovieren“, also Innovationen rückgängig machen. In der Gesellschaftsperspektive sieht man, dass einerseits unser Lebensstandard auf Wachstum beruht, aber es gleichzeitig auch hoch destruktiv ist, historisch gesehen. Der Sozialstaat, so wie er aufgebaut wurde, basiert auf Wachstum, zum Beispiel die Pensionssicherungssysteme. Auch die breite Masse profitiert vom Wachstum, und das macht halt die Schaffung klimafreundlicher Strukturen auch sehr herausfordernd. Die Leute kriegen Angst, wenn sie von Post-Wachstum hören. Da braucht es Alternativangebote.

Martin Auer: Vielen herzlichen Dank, liebe Margret, für dieses Interview.

Dieses Interview ist der 2. Teil unserer Serie zum APCC Special Report „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“.
Zu hören ist das Interview in unserem Podcast ALPENGLÜHEN.
Der Bericht wird als Open Access Buch bei Springer Spektrum erscheinen. Bis dahin sind die jeweiligen Kapitel auf der Homepage des CCCA verfügbar.

Fotos:
Titelfoto: Urban Gardening am Donaukanal (wien.info)
Preise an einer Tankstelle in Tschechien (Autor:in unbekannt)
Monorail. LM07 vial pixabay
Kinderfreibad Margaretengürtel, Wien, nach 1926. Friz Sauer
Minenarbeiter in Nigeria.  Environmental Justice Atlas,  CC-BY 2.0

1 Der nach dem ersten Weltkrieg entwickelte Fordismus beruhte auf stark standardisierter Massenproduktion für den Massenkonsum, Fließbandarbeit mit in kleinste Einheiten zerteilten Arbeitsschritten, strenge Arbeitsdisziplin und einer angestrebten Sozialpartnerschaft zwischen Arbeiter:innen und Unternehmer:innen.

2 Ausbeutung von Rohstoffen

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