Wenn Politik oder Industrie wesentliche Missstände übersehen oder ignorieren, sind die Stimmen aus dem Volk gefragt. Doch die werden nicht immer gerne gehört, so mancher Aktivismus sogar aktiv bekämpft. Noch nie gab es so viele unterschiedliche Meinungen, noch nie war unsere Gesellschaft so entzweit. Insbesondere die Themen Zuwanderung, Klimakrise und natürlich die durchaus umstrittenen Corona-Maßnahmen erregen die Gemüter. Schön, dass in der Alpenrepublik Meinungsfreiheit herrscht. Auch wenn uns so manche Meinung nicht in den Kram passt.
Schon vor Corona: Schwieriger Boden für Zivilgesellschaft
Die Realität spricht eine andere Sprache, wie der letzte Bericht der NGO CIVICUS über Österreich zeigt: Bereits im Ende 2018, noch vor Corona, stufte CIVICUS seine Einschätzung für Österreich aufgrund der Verschlechterung des zivilgesellschaftlichen Spielraums von „open“ auf „narrowed“ ein. Einer empirischen Studie der Wirtschaftsuniversität Wien und der CSO Interest Group of Public Benefit Organizations (IGO) zufolge ähnelte die rechtspopulistische Politik Österreichs gegenüber der Zivilgesellschaft den aus autoritären Ländern bekannten Mustern. Die Untersuchung ergab, dass die „Situation der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren viel schwieriger geworden ist“, da Österreich restriktive Schritte unternommen hat. Wohlgemerkt, für die Amtszeit der aktuellen Regierung liegt noch kein neuer Bericht vor.
Rekord bei Morden an Aktivisten
Und auch global schrillen die Alarmglocken: Alleine mindestens 227 Umweltaktivist*Innen wurden laut NGO Global Witness 2020 ermordet. Noch nie war die Zahl so hoch, nachdem sie bereits 2019 den damaligen Rekordwert von 212 erreicht hatte. „Während die Klimakrise sich verschärft, eskaliert die Gewalt gegen Verteidiger des Planeten“, heißt es in der veröffentlichten Studie.
Auch Amnesty International warnt: In mindestens 83 der 149 im Jahresbericht 2020 enthaltenen Länder haben sich Maßnahmen von Regierungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie auf bereits marginalisierte Gruppen diskriminierend auswirkten. Einige Staaten wie z.B. Brasilien und die Philippinen setzten auf unverhältnismäßige Gewaltanwendung. Die Corona-Pandemie wurde außerdem zum Vorwand genommen, die freie Meinungsäußerung weiter einzuschränken, etwa in China oder in den Golf-Staaten.
Repressalien gegen Kritiker
Die Einschränkung der Meinungsfreiheit hat in einer Demokratie jedenfalls nichts zu suchen. Dass diese jedoch in Österreich und anderen Ländern voranschreitet und deutlich autoritäre Tendenzen zeigt, steht inzwischen außer Zweifel. Die eingesetzten Mittel können nicht unterschiedlicher sein: Kritiker werden überwacht, vor Gericht gezerrt, das Recht auf Versammlungsfreiheit untergraben, öffentlich diskreditiert und verhaftet. Zahlreiche Einzelfälle, die jedoch inzwischen eine bedenkliche Entwicklung aufzeigen.
Unsitte: Politiker klagen
Allen Repressalien gegenüber Kritikern voran, hat in Österreich die politische Klage längst Tradition. Ganz besonders, wenn Politiker beim Lügen erwischt wurden, setzen diese auf „Angriff als beste Verteidigung“ – gegen Staatsbürger, mit Hilfe von Steuergeldern. Zuletzt wurde dem Medium Falter „eingeheizt“: Dieses hat behauptet, dass die ÖVP die Öffentlichkeit bewusst über ihre Wahlkampfkosten 2019 getäuscht und auch die Wahlkampfkosten bewusst überschritten hätte. „Zulässig“, meinte das Handelsgericht Wien und erteilte ÖVP-Bundeskanzler Kurz eine klare Absage. Übrigens: Aufgrund ähnlichem Tatbestandes wurde dieser Tage Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy wegen illegaler Wahlkampffinanzierung für schuldig befunden und zu einem Jahr unbedingter Haft verurteilt.
Gewalt gegen Demonstranten
Auch auf der Straße hat sich das Klima deutlich verschlechtert. Schockierender Höhepunkt: Am 31. Mai 2019 hatten Aktivisten der Umweltschutzinitiativen „Ende Geländewagen“ und „Extinction Rebellion“ den Ring bei der Urania blockiert. Ein Video belegt das brutale Vorgehen gegen einen Demonstranten: Während der 30-Jährige am Boden mit dem Kopf unter einem Polizeibus fixiert wurde, fuhr das Fahrzeug los und drohte den Kopf des Demonstranten zu überrollen. Immerhin, der Beamte wurde wegen Amtsmissbrauchs und falscher Beweisaussage zur Rechenschaft gezogen und zu einer bedingten Strafe von zwölf Monaten verurteilt.
„Gefangener der ÖVP-Politik“
Ähnlich erging es sieben Aktivistinnen beim Flugblattverteilen vor dem ÖVP-Wahlkampfauftakt in Oberösterreich. Im Schweinekostüm wollten diese vor dem Design Center über den leidvollen Schweine-Vollspaltenboden informieren. Kurz darauf klickten die Handschellen, gefolgt von sechs Stunden in Polizeihaft. VGT-Obmann Martin Balluch ist erbost: „Es ist unfassbar, wie diese ÖVP die Grundrechte und den Verfassungsgerichtshof ignoriert. Und das, obwohl es ein ganz aktuelles Erkenntnis des VfGH gibt, in dem in klaren Worten steht, dass trotz Untersagung und Sperrzone friedlich Flugblätter verteilt werden dürfen. Und nichts anderes haben diese Tierschützerinnen gestern gemacht.“ David Richter, VGT Vize-Obmann, war dabei: „Mehr als sechs Stunden waren wir Gefangene der ÖVP-Politik. Es ist unfassbar, dass so eine Polizeigewalt von einer Partei „bestellt“ werden kann. Alles wurde abgesperrt, damit ja niemand den Unmut ausdrücken kann und die, die es wagen, Flugblätter den Vorbeikommenden anzubieten, werden mit Gewalt, unter Schmerzen und unter Androhung von noch mehr Gewalt, entfernt. Damit die ÖVP eine Wahlkampfveranstaltung „ohne Makel“ abhalten konnte.“
Ölindustrie überwacht Kritiker
Aber nicht nur die Politik macht sich die Hände schmutzig. Im April warnen Umweltschutzorganisationen vor der zunehmend ausufernden, systematischen Überwachung der Zivilgesellschaft durch die Öl- und Gasindustrie, „Gerade für uns junge Aktivistinnen ist es erschreckend zu hören, dass ein mächtiger Konzern wie die OMV mit zwielichtigen Investigativspezialistinnen zusammenarbeitet, scheinbar um die Umweltbewegung zu überwachen. Firmen wie Welund leben davon, friedliche Proteste wie unsere Schulstreiks und junge Menschen, die sich für eine gute Zukunft für uns alle stark machen als existenzielle Bedrohung zu inszenieren und im Auftrag der Ölindustrie zu überwachen”, zeigt sich u.a. Aaron Wölfling von Fridays For Future Austria schockiert.
Corona: keine Kritik gestattet
Repressalien müssen auch Corona-Maßnahmen-Skeptiker über sich ergehen lassen. Fest steht: Auch wenn nicht alle kritischen Argumente berechtigt sind, in einer Demokratie muss freie Meinungsäußerung respektiert werden. Ihre eigene Meinung wurde zuletzt Gudula Walterskirchen, bisherige Herausgeberin der NÖ Nachrichten NÖN, wohl zum Verhängnis. Sie verlor ihren Job. Inoffiziell war zu hören, dass die Anti-Impf-Linie der Journalistin sauer aufstoßen ließ. Eigentümer der NÖN ist das NÖ Pressehauses, wiederum im Besitz der Diözese St. Pölten (54 Prozent), des Preßvereins in der Diözese St. Pölten (26 Prozent) sowie der Raiffeisen Holding Wien-Niederösterreich (20 Prozent). Die Nähe zur ÖVP ist hinlänglich bekannt.
RECHTE DER ZIVILGESELLSCHAFT
Damit sich Menschen zum Beispiel für den Schutz und die Förderung von Menschenrechten einsetzen können, müssen sie ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit und Meinungsfreiheit ausüben können. Dafür sollen internationale menschenrechtliche Standards sorgen. Diese sind die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ sowie in diesem Zusammenhang auch der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ und die „Europäische Menschenrechtskonvention“. Auch die Erklärung über das Recht und die Verpflichtung von Einzelpersonen, Gruppen und Organen der Gesellschaft, die allgemein anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen (Declaration on Human Rights Defenders, UNGA Res 53/144, 9. Dezember 1998) beinhaltet eine Reihe an Rechten, die für die globale Zivilgesellschaft Anwendung finden.
„Der Erklärung zufolge haben zivilgesellschaftliche Organisationen (CSO) das Recht auf Vereinigungs- und Meinungsfreiheit (einschließlich das Recht Ideen und Informationen anzufragen, zu erhalten und zu verbreiten), sich für Menschenrechte einzusetzen, an öffentlichen Prozessen teilzunehmen, das Recht auf den Zugang und Austausch mit internationalen Menschenrechtsinstitutionen und das Einreichen von Vorschlägen für Gesetzes- und Politikreformen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. In diesem Zusammenhang sind Staaten dazu verpflichtet, ein förderliches Umfeld („enabling environment“) zu schaffen und zu garantieren, dass Menschen sich in Gruppen und Organisationen zusammenfinden können, ohne von Staaten oder Dritten daran gehindert zu werden“, erklärt Martina Powell, Sprecherin von Amnesty International.