Es muss so 1987 gewesen sein, da fragte mich mein damaliger Verleger, als ich ihn besuchte, um neue Projekte zu besprechen: „Möchtest du nicht für unsere Biografienreihe über Henry David Thoreau schreiben?“ Ich hatte Thoreaus „Walden, oder das Leben in den Wäldern“ und „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat“ gelesen und stimmte gerne zu.
Zwei Wochen später bekam ich einen Brief: „Es tut mir schrecklich leid, ich habe vergessen, dass ich Thoreau schon jemand anderem versprochen habe. Willst du stattdessen über Jean-Henri Fabre schreiben?“
Ich schrieb zurück: „Wer ist Jean-Henri Fabre?“
Ich machte mich also auf, es herauszufinden. Ich fuhr mit meiner Freundin in den Süden Frankreichs, nach Serignan, einer kleinen Gemeinde zehn Kilometer von Orange. Dort tranken wir den wunderbaren Wein der Gegend und mussten, weil sonst nichts zu finden war, in einem ehemaligen Schlösschen wohnen, wo man eins der sechs Zimmer nur unter der Bedingung bekam, dass man dort auch die erlesene französische Küche genoss.
Ein ödes Stück Land voller Disteln und Insekten
In Serignan war der berühmte „Harmas“: „Ein verlassenes, unfruchtbares Stück Land, verbrannt von der Sonne, günstig für die Disteln und die hautgeflügelten Insekten“, wo Fabre von 1870 bis zu seinem Tod 1915 lebte und forschte, und wo er den größten Teil seines monumentalen Werks: „Souvenirs Entomologiques“ schrieb, die „Erinnerungen eines Insektenforschers“. Im Museum, das im ehemaligen Wohnhaus eingerichtet ist, erstand ich dieses Werk in einer Paperback-Ausgabe. Die gebundene Ausgabe hätte ich mir nicht leisten können. Dieses Buch war die wichtigste Quelle für Fabres Biographie, denn dieser scharfsinnige Wissenschaftler schrieb keine gelehrten Abhandlungen, sondern berichtete über seine Abenteuer mit den Insekten in Form von Erzählungen, die auch die Landschaften beschrieben, in denen er seine Experimente machte, und die oft schwierigen Lebensumstände, die lange Zeit seiner Forschungsarbeit hinderlich waren.
Meine Französischkenntnisse hatte ich allerdings nur bei ein paar Ferienaufenthalten erworben. Mühsam arbeitete ich mich mit Hilfe eines Wörterbuchs durch diese zehn Bände und die französischen Biographien, die von Zeitgenossen verfasst worden waren. Die letzten fünf Bände konnte ich dann schon fließend lesen.
Wie arme Leute für das Leben in Armut sozialisiert werden
Jean-Henri Fabre wurde 1823 als Kind armer Bauern in der kargen Landschaft des Rouerge geboren, drei Tage vor Weihnachten. Sein Wissensdurst erwachte früh, doch wenn er als Vierjähriger vom Entenhüten am Teich seine Entdeckungen mitbrachte, Käfer, Schneckenhäuser, Versteinerungen, erregte er den Zorn der Mutter, dass er sich mit solch unnützem Zeug die Taschen zerriss. Wenn er wenigstens Kräuter sammeln würde, mit denen man die Kaninchen füttern konnte! Der erwachsene Jean-Henri brachte Verständnis für die Haltung der Mutter auf: Armen Leuten – das lehrte die Erfahrung – konnte es nur schaden, sich mit höheren Dingen befassen zu wollen, anstatt alle Kraft aufs Überleben zu konzentrieren. Dennoch dürfte man sich damit nicht abfinden.
Nach der Grundschule konnte er gratis das Collège besuchen und dafür in dessen Kapelle als Chorknabe dienen. Bei einem Wettbewerb gewann er ein Stipendium für die Lehrerbildungsanstalt. Bald bekam er eine Stelle an einer Primarschule, wo die Bezahlung gerade „für Kichererbsen und ein bisschen Wein“ reichte. Der junge Lehrer fragte sich, was seinen Schülern, die meistens vom Land kamen, am nützlichsten sein konnte, und er lehrte sie die Chemie der Landwirtschaft. Das nötige Wissen eignete er sich vor den Lektionen an. Er ging mit seinen Schülern ins Freie, um dort Geometrie zu unterrichten, nämlich Landvermessung. Von seinen Schülern lernte er, wie man an den Honig der Mörtelbiene herankommt, und suchte und naschte mit ihnen. Die Geometrie kam später dran.
Eine umstürzende Entdeckung führt zur Freundschaft mit Darwin
Mit seiner jungen Frau lebte er er von einem Tag auf den anderen, die Stadt war mit den Gehältern oft im Rückstand. Ihr erster Sohn starb bald nach der Geburt. Hartnäckig legte der junge Lehrer extern Prüfung um Prüfung ab, um seinen akademischen Grad zu erwerben. Für seine Doktorarbeit studierte er das Buch des damaligen Patriarchen der Insektenkunde Léon Dufour über die Lebensweise der Cerceris, der Knotenwespe. In ihrem unterirdischen Nest hatte Dufour kleine Käfer aus der Gattung Buprestis gefunden, Prachtkäfer. Die Wespe fängt sie als Nahrung für ihre Nachkommenschaft. Sie legt ihre Eier darauf ab, die ausgeschlüpften Maden verzehren den Käfer. Doch warum blieb das Fleisch der toten Käfer so lange frisch, bis die Maden es aufgezehrt hatten?
Dufour vermutete, dass die Wespe ihnen mit ihrem Stich ein Konservierungsmittel einflößte. Fabre entdeckte, dass die Käfer gar nicht tot waren. Die Lösung des Rätsels war: Die Wespe brachte ihr Gift genau in das Nervenzentrum ein, das Beine und Flügel bewegte. Die Käfer waren nur gelähmt, die Maden fraßen am lebendigen Fleisch. Die Auswahl der richtigen Käfer, der Stich in die richtige Stelle, das war der Wespe angeboren. Fabre sandte ein Memorandum an die Universität, das ein Jahr später, 1855, veröffentlicht wurde. Es brachte ihm einen Preis des Institut Français ein und eine Erwähnung in Darwins „Entstehung der Arten“. Darwin nannte ihn den „meisterlichen Beobachter“ und die beiden blieben bis zu Darwins Tod im Briefkontakt. Darwin bat Fabre auch, für ihn bestimmte Experimente durchzuführen.
Lücken in der Evolutionstheorie
Fabre schätzte Darwin sehr, doch konnte ihn die Evolutionstheorie nicht überzeugen. Er war tief religiös, doch argumentierte er nicht mit der Bibel sondern rein wissenschaftlich gegen Darwins Theorie, deren Lücken er aufzeigte, vor allem Darwins Vermutung, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden konnten.
Liest man aber Fabres Werk, seine Beschreibungen der Vielfalt der Insektenarten, so bekommt man eine lebhafte Vorstellung von den Verwandtschaften und Übergängen zwischen den Arten. Legen nicht die verschiedenen Arten der Knotenwespe, die verschiedene Arten des Rüsselkäfers jagen, den Gedanken nahe, dass einst eine gemeinsame Vorfahrin der Wespen den gemeinsamen Vorfahren der Käfer gejagt haben müsste? Zeigen nicht die Bienenarten, die der geduldige Beobachter beschrieben hat, alle Übergangsstufen zwischen vollkommenem Einzelgängertum und dem komplizierten Staatswesen der Honigbiene?
„Ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben“
Fabre ging es bei seinen Forschungen nicht darum, seine Untersuchungsobjekte zu sezieren und zu katalogisieren, sondern ihre Lebensweise, ihr Verhalten, in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten. Stundenlang konnte er in der glühenden Sommerhitze auf dem harten Erdboden liegen und eine Wespe beim Nestbau beobachten. Das war eine völlige neuartige wissenschaftliche Herangehensweise: „Ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben“, schrieb er.
Dabei unterwarf er aber seine Insekten listig ausgedachten Experimenten: Die Kreiselwespe gräbt mit ihren Beinen einen unterirdischen Gang. An dessen Ende legt sie die Bruthöhle für die Larve an, die sie ständig mit Fliegen und Schwebfliegen versorgen muss. Fliegt sie auf die Jagd, verschließt sie den Eingang mit einem Steinchen. Kommt sie mit der Beute zurück, findet sie ohne weiteres den Eingang wieder. Fabre legte mit einem Messer den Gang und die Brutkammer frei. Die Wespe versuchte den Eingang zu finden, sie grub an der Stelle, wo der Eingang sein musste, ohne zu erkennen, dass der Gang offen vor ihr lag. Bei ihrer Suche lief sie auch bis in die Brutkammer, doch sie erkannte die Larve nicht, die sie doch eigentlich füttern sollte, und trampelte auf ihr herum. So lange sie nicht den Eingang freigelegt hatte, wusste sie nicht, was sie als nächstes tun sollte und konnte die Larve nicht füttern.
Darwin hatte den Insekten ein winziges Fünkchen Vernunft zugestanden. Doch Fabre erkannte: „Dieses Verhalten ist lediglich eine Verkettung von Instinkthandlungen, deren eine die andere hervorruft, in einer Reihenfolge, die auch die schwerwiegendsten Umstände nicht umstoßen können.“ Den Larven der Dolchwespe, die auf den – von der Mutter gelähmten – Engerling des Rosenkäfers spezialisiert sind, legte er die Engerlinge anderer Arten vor. Diese Engerlinge starben bald, und die Larven mit ihnen. Den Larven war ein ganz bestimmtes Konzept angeboren, wie sie den Engerling zu fressen hatten: erst das Fett, dann das Muskelgewebe, erst am Schluss die Nervenstränge und Ganglien. Bei einem anderen Engerling passte ihr Fressschema nicht, und sie töteten ihn vorzeitig.
„Ebenso wie die Einzelheiten des Organismus, ja vielleicht noch besser als diese, kennzeichnet jener Trieb, nach gewissen bestimmten Regeln zu bauen, die Körperschaften der Insekten, die wir unter dem Namen ‚Arten‘ zusammenfassen“.
Volksbildner
1867 nahm der Erziehungsminister Napoleons III. ein Programm der Volksbildung und der Mädchenbildung in Angriff. Fabre begann in Avignon Abendkurse zu geben. Mädchenbildung war der katholischen Kirche ein Dorn im Auge. Und als Fabre in seinem Kurs den Mädchen etwas über die Befruchtung erzählte – nämlich die Befruchtung der Blüten – war das den frommen Moralhütern zu viel. Er verlor seine Anstellung und seine Wohnung.
Doch inzwischen hatte Fabre schon einige Lehrbücher verfasst, und nun machte er sich ernsthaft daran und war bald erfolgreich. Er schrieb Bücher für den offiziellen Lehrplan, aber auch fächerübergreifende wie: „Der Himmel“, „Die Erde“, „Die Chemie des Onkel Paul, „Geschichte eines Holzscheits“. Er strebte Ganzheitlichkeit an, nicht Zergliederung. Anhand des Kreisels, den Kinder sich oft bastelten, machte er die Rotation der Erdkugel um sich selbst und um die Sonne anschaulich. Es waren die ersten Sachbücher für Kinder und Jugendliche. Mit dem Ertrag dieser Bücher konnte er auf eine Anstellung verzichten, sich ganz seinen Forschungen widmen.
Die „Souvenirs Entomologiques“
Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten schrieb er so, dass jeder aufgeweckte Vierzehnjährige sie verstehen sollte. 1879 erschien der erste Band der Souvenirs, da war er 56 Jahre alt. 1907, im Alter von 84 Jahren, veröffentlichte er den zehnten. Dem hätte noch ein elfter folgen sollen, doch dafür reichten seine Kräfte nicht mehr. 1910 entschloss er sich, eine endgültige Ausgabe herauszubringen, die 1913 erschien, illustriert mit vielen Fotos, die sein Sohn Paul als sein Mitarbeiter gemacht hatte.
Das Werk trug ihm die Bewunderung nicht nur von Wissenschaftlern ein, sondern auch von Dichtern wie Maurice Maeterlinck, Edmond Rostand, Romain Rolland. Victor Hugo nannte ihn den „Homer der Insekten“. Nicht nur die tragischen Liebesgeschichten, die heroischen Kämpfe, die dieses Buch enthält, rechtfertigen den Vergleich. Die Fülle des Lebens ist in dem Werk, seine wilde Schönheit. Freilich ist es vor allem das Heldenlied der Mütter, das der Provenzale gesungen hat, nicht das der Krieger gegen die eigene Art, wie es der Grieche gedichtet hatte.
Bei manchen Vertretern der akademischen Welt stieß das Werk auf Ablehnung: Es war nicht „wissenschaftlich“ geschrieben, die literarische Gestaltung war einem wissenschaftlichen Werk nicht angemessen.
Späte Ehren
1911 begann eine Kampagne, ihn für den Nobelpreis vorzuschlagen, doch das Institut Française hatte schon einen anderen Kandidaten. Der Dichter Mistral, selbst Nobelpreisträger, machte im folgenden Jahr von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch. Ohne Erfolg. Die Lehrbücher verkauften sich nicht mehr, Fabre musste den Kampf um das tägliche Brot wieder aufnehmen. Mistral ließ im „Matin“ einen Artikel erscheinen unter der Überschrift: „Das Genie, das an Hunger stirbt“. Eine Flut von Spenden war die Folge. Der vom Alter und von der Trauer um seine verstorbene zweite Frau Gebeugte sandte, mit Hilfe seiner Freunde, jede einzelne Spende zurück, ließ die anonymen Beiträge den Armen von Serignan geben.
Langsam verlosch er. Sein Arbeitszimmer im ersten Stock konnte er nicht mehr betreten, auch den Garten nicht. Doch bis zum letzten Tag verlangte er, dass die Fenster seines Zimmers offen standen, damit er die Sonne spüren konnte. Bis zum letzten Tag sprach er von Insekten, erklärte der Schwester, die ihn pflegte, ihre Namen und deren Herkunft. Am 11. Oktober 1915 starb Jean-Henri Fabre.
Fabres Werk wurde in viele Sprachen übersetzt, doch auf Deutsch gab es noch lange nur Auszüge, Bruchstücke. In Frankreich und in der Sowjetunion wurden Spielfilme über ihn gedreht, in Japan wurde er gerade wegen seiner Verbindung der Wissenschaft mit der Kunst verehrt. Das ging so weit, dass eine japanische Firma von einer Nachbildung seines kleinen Arbeitstisches, den er in seinen Schriften mehrmals erwähnt hat, 10.000 Stück verkaufen konnte. Auch mein Buch, das 1995 erschien, wurde ins Japanische und ins Koreanische übersetzt.
Infolge der langen deutsch-französischen Feindschaft – Fabre erlebte sowohl den deutsch-französischen Krieg von 1870 als auch den Beginn des Ersten Weltkriegs – war das Interesse an Fabre im deutschen Sprachraum nicht sehr groß. Nur einige Auszüge wurden veröffentlicht. Erst 2010 wagte sich der Verlag Mattes und Seitz an die höchst verdienstvolle Gesamtausgabe der „Erinnerungen eines Insektenforschers“ in deutscher Sprache, die 2015 mit dem zehnten Band abgeschlossen wurde.
Die Ausgabe meines Buchs „Ich aber erforsche das Leben“ im Beltz-Verlag ist schon lange vergriffen. Doch ist eine Neuauflage als Print on demand bei einem großen Online-Buchhändler erhältlich. Das Buch endet mit diesem Zitat:
„In meinen Träumereien habe ich mir oftmals gewünscht, nur einige Minuten mit dem urwüchsigen Hirn meines Hundes denken, die Welt durch die Facettenaugen einer Mücke betrachten zu können. Wie anders würden die Dinge dann aussehen!“
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