„Bei buen vivir geht Es um materielle, soziale und spirituelle Zufriedenheit für alle Mitglieder einer Gemeinschaft, die nicht auf Kosten anderer und nicht auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen gehen darf.“
Vor zehn Jahren hat die Finanzkrise die Welt erschüttert. Ausgehend vom Zusammenbruch eines aufgeblasenen Hypothekenmarktes in den USA kam es zu milliardenschweren Verlusten bei Großbanken, gefolgt von einem globalen Konjunktureinbruch und Turbulenzen der Staatsfinanzen zahlreicher Länder. Der Euro und die europäische Währungsunion fielen in eine tiefe Vertrauenskrise.
Vielen wurde spätestens im Jahr 2008 klar, dass sich unser vorherrschendes Finanz- und Wirtschaftssystem auf einem völlig falschen Weg befindet. Jene, die die Weltwirtschaftskrise verursacht hatten, wurden „gerettet“, unter einen „Schutzschirm“ gestellt und mit Boni versorgt. Diejenigen, die ihre negativen Auswirkungen zu spüren bekamen, wurden mit der Kürzung von Sozialleistungen, Arbeitsplatzverlust, Wohnungsverlust und Einschränkungen im Gesundheitswesen „bestraft“.
Buen Vivir – Kooperation statt Konkurrenz
„In unseren Freundschafts- und Alltagsbeziehungen geht es uns gut, wenn wir menschliche Werte leben: Vertrauensbildung, Ehrlichkeit, Zuhören, Empathie, Wertschätzung, Kooperation, gegenseitige Hilfe und Teilen. Die ‚freie‘ Marktwirtschaft beruht hingegen auf den Grundwerten Gewinnstreben und Konkurrenz“, schreibt Christian Felber in seinem 2010 erschienenen Buch „Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft.“ Dieser Widerspruch sei nicht nur ein Schönheitsfehler in einer komplexen oder multivalenten Welt, sondern eine kulturelle Katastrophe. Er spalte uns als Individuen und als Gesellschaft.
Die Gemeinwohlökonomie bezeichnet ein Wirtschaftssystem, das das Gemeinwohl fördert, statt auf Gewinnstreben, Konkurrenz, Gier und Neid zu bauen. Man könnte auch sagen, sie strebt ein gutes Leben für alle an, statt Luxus für ein paar wenige.
Das „gute Leben für alle“ ist in den vergangenen Jahren zu einem Begriff geworden, der verschiedentlich verwendet wird. Während die einen damit meinen, dass man sich mehr Zeit nehmen und sein Leben genießen soll, vielleicht ein bisschen mehr Müll trennen und den Café Latte to go im Mehrwegbecher mitnehmen, verstehen die anderen darunter einen radikalen Umbruch. Letzteres ist jedenfalls die spannendere Geschichte, denn sie geht auf die indigenen Lateinamerikas zurück und hat neben ihrer politischen und sozio-ökonomischen Bedeutung auch einen spirituellen Hintergrund.
„Es geht darum, eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft in einem institutionellen Rahmen aufzubauen, der das Leben sichert.“
Gutes Leben für alle oder Buen Vivir?
Lateinamerika war in den vergangenen Jahrhunderten von Kolonialismus und Unterdrückung, von aufgezwungener „Entwicklung“ und Neoliberalismus geprägt. 1992, 500 Jahre nachdem Christoph Kolumbus Amerika entdeckt hatte, begann deshalb eine Bewegung der neuen Wertschätzung der indigenen Völker, sagt der Politikwissenschaftler und Lateinamerika-Experte Ulrich Brand. Als 2005 in Bolivien mit Evo Morales und 2006 in Ecuador mit Rafael Correa „linke“ Kandidaten die Präsidentschaftswahlen gewinnen und neue progressive Allianzen bilden, werden auch die Indigenen einbezogen. Neue Verfassungen sollen einen Neuanfang nach autoritären Regimen und wirtschaftlicher Ausbeutung deutlich machen. Beide Länder nehmen in ihre Verfassungen den Begriff des „guten Lebens“ auf und sehen in der Natur ein Subjekt, das Rechte haben kann.
Bolivien und Ecuador berufen sich dabei auf die indigene, also nicht-koloniale Tradition der Anden. Konkret beziehen sie sich auf das Quechua-Wort „Sumak Kawsay“ (gesprochen: sumak kausai), das auf Spanisch als „buen vivir“ oder „vivir bien“ übersetzt wird. Es geht dabei um materielle, soziale und spirituelle Zufriedenheit für alle Mitglieder einer Gemeinschaft, die nicht auf Kosten anderer und nicht auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen gehen darf. In der Präambel der ecuadorianischen Verfassung ist die Rede von einem Zusammenleben in Vielfalt und Harmonie mit der Natur. In seinem Buch „Buen Vivir“ erläutert Alberto Acosta, der Präsident der verfassungsgebenden Versammlung von Ecuador war, wie es dazu kam und was damit gemeint ist. Das Konzept des „guten Lebens“ dürfe nicht mit „besser leben“ verwechselt werden, stellt er klar, „denn Letzteres geht von einem unbegrenzten materiellen Fortschritt aus.“ Im Gegenteil gehe es darum, „eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft in einem institutionellen Rahmen aufzubauen, der das Leben sichert.“
Im Gegensatz zu Alberto Acosta sei es Präsident Rafael Correa aber sehr wohl um Entwicklung im westlichen, wirtschaftsliberalen Sinne gegangen, wodurch es zum Bruch zwischen den beiden kam, erzählt Johannes Waldmüller. Der Österreicher lebt seit zehn Jahren in Lateinamerika und forscht an der Universidad de Las Americas in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito zu Politik und internationalen Beziehungen. Nach außen habe sich Correa weiterhin mit „buen vivir“ und dem Schutz der Umwelt geschmückt, gleichzeitig kam es zu Repressionen gegenüber den Indigenen (die in Ecuador nur 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen), zu einer Fortsetzung des „Extraktivismus“, also der Ausbeutung von Bodenschätzen, der Zerstörung von Naturparks mit großer Biodiversität für den Sojaanbau oder Infrastrukturprojekte, sowie der Zerstörung von Mangrovenwäldern für Shrimpsfarmen.
Für die Mestizen, also die Nachfahren von Europäern und der indigenen Bevölkerung, bedeute „buen vivir“, ein gutes Leben zu haben wie die Menschen im Westen, also in den Industrieländern, sagt Ulrich Brand. Auch junge Indigene würden wochentags in der Stadt leben, Jobs nachgehen, Jeans tragen und Handies benützen. Am Wochenende kehren sie in ihre Gemeinden zurückkehren und pflegen dort die Traditionen.
Sehr interessant ist für Ulrich Brand, wie die Individualität, die uns die Moderne gebracht hat, mit dem kommunitären Denken der Indigenen, bei denen es vielfach gar kein Wort für „ich“ gibt, in eine produktive Spannung gesetzt werde. Ihr Selbstverständnis der Plurinationalität, die verschiedene Lebenserfahrungen, Ökonomien und Rechtssysteme in einer nicht-herrschaftlichen Weise anerkenne, sei etwas, das wir in Europa von Lateinamerika lernen könnten, gerade in Hinblick auf die aktuelle Migration.
„Es wäre wahnsinnig wichtig, das ‚buen vivir“ und die Rechte der Natur weiter zu erforschen“, sagt Johannes Waldmüller. Obwohl das vom Staat propagierte „buen vivir“ in Ecuador von den Indigenen mittlerweile misstrauisch gesehen werde, habe es interessante Diskussionen angestoßen und zu einer Rückbesinnung auf das „Sumak Kawsay“ geführt. Lateinamerika könnte damit – in Kombination mit den Ideen der Gemeinwohlökonomie, Degrowth, Transition und Postwachstumsökonomie – als Ort der utopischen Hoffnung dienen.
Buen Vivir: Sumak Kawsay und Pachamama
„Sumak kawsay“ bedeutet wörtlich aus dem Quechua übersetzt „schön leben“ und ist ein zentrales Prinzip in der Lebenswelt der indigenen Völker des Andenraumes. Schriftlich sei der Begriff erstmals in den 1960/1970er Jahren in soziologisch-anthropologischen Diplomarbeiten aufgetaucht, sagt der in Ecuador lebende Politikwissenschaftler Johannes Waldmüller. Rund um das Jahr 2000 wurde er dann zum politischen Begriff.
Traditionell sei „sumak kawsay“ untrennbar mit der Landwirtschaft verknüpft. Es bedeute zum Beispiel, dass jede Familie der anderen bei der Aussaat und Ernte, beim Hausbau usw. helfen müsse, man gemeinsam Bewässerungssysteme betreibe und nach der Arbeit auch gemeinsam esse. „Sumak kawsay“ hat damit Ähnlichkeiten mit Wertvorstellungen in anderen indigenen Gemeinschaften, wie bei den Maori in Neuseeland oder dem Ubuntu in Südafrika. Wörtlich bedeute Ubuntu „Ich bin weil wir sind“, erklärt Johannes Waldmüller. Aber auch in Österreich zum Beispiel war es früher üblich, dass Verwandte und Nachbarn einander helfen und man die Früchte der Arbeit teilt oder sich gegenseitig unterstützt, wenn jemand in Not ist. Die unglaubliche Hilfe durch die Zivilgesellschaft während der großen Flüchtlingsbewegung 2015/2016 oder neue Plattformen für nachbarschaftliche Hilfe wie „Frag nebenan“ zeigen, dass der Gemeinschaftssinn auch heute noch existiert und bloß zwischenzeitlich von der Individualisierung verschüttet wurde.
In der politischen Rhetorik Boliviens ist ein zweiter Begriff interessant: „Pachamama“. Zumeist wird er mit „Mutter Erde“ übersetzt. Die Regierung Boliviens hat sogar erreicht, dass der 22. April von der UNO zum „Tag der Pachamama“ erklärt wurde. „Pacha“ bedeutet aber nicht „Erde“ im westlichen Sinne, sondern „Zeit und Raum“. „Pa“ heißt zwei, „cha“ Energie, ergänzt Johannes Waldmüller. „Pachamama“ macht damit deutlich, warum das „gute Leben“ im Sinne der Indigenen der Anden nicht ohne seine spirituelle Komponente betrachtet werden sollte. Denn „Pacha“ ist ein vieldeutiger Begriff, der auf die Gesamtheit des Seins zielt, das nicht linear, sondern zyklisch abläuft.