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Was du nicht weißt macht dich erst heiß – Kolumne von Mira Kolenc

Mira Kolenc

Radikale Offenheit ist nichts, was der Mensch als besonders angenehm empfindet. Möchte er vom anderen doch lieber das hören, was er sich wünscht. Das Gegenüber soll am besten dem Bild entsprechen, das man sich von ihm gemacht hat. Alles, was es zerstören könnte, ist unangenehm.

Die Forderung nach Direktheit ohne Hintertür ist demnach eher eine halbherzige, obwohl man sich gleichzeitig vor Geheimnissen fürchtet. Weshalb das ein oder andere Pärchen besonders betont, dass sie wirklich alles miteinander besprechen würden. Was bei mir ein leichtes Schaudern hervorruft. Sie müssen entweder gänzlich fantasielos sein oder es sich in ihrer ganz eigenen Wahrheit bequem gemacht haben. Nicht, weil man zu viel Harmonie grundsätzlich misstraut, sondern weil der Mensch ohne Geheimnisse nicht leben kann.

Kürzlich habe ich mich mit einem Neunzehnjährigen unterhalten. Er wollte mir anhand eines simplen Beispiels die Generationsunterschiede zwischen mir und ihm aufzeigen. Er und seine Freundinnen und Freunde würden sich nämlich selbstverständlich auch nackt kennen. Ja, man zöge sich bei jeder Gelegenheit aus. Auch nackt gemeinsam in Betten zu schlafen sei nichts Ungewöhnliches, selbstverständlich spielt Sex dabei keine Rolle. Meine Generation würde das seltsam finden, seine aber nicht.

„Stimmt, unbekleidetes sexloses Liegen im Bett löst bei mir einen Moment der Irritation aus, und auch das Bedürfnis, Freundinnen und Freunde nackt durch meine Wohnung hüp-fen zu haben, hält sich doch in Grenzen.“

Stimmt, unbekleidetes sexloses Liegen im Bett löst bei mir einen Moment der Irritation aus – wobei sich hier vielleicht sehr schön Ariadne von Schirachs These der heutigen, angeblich tabulosen Gesellschaft bestätigt, die sei nämlich „overse­xed and underfucked“ –, und auch das Bedürfnis, Freundinnen und Freunde nackt durch meine Wohnung hüpfen zu haben, hält sich doch in Grenzen.

Schimpfen Sie mich prüde, aber mit voranschreitendem Alter steht man eben mehr auf Geheimnisse. Und auf Kleidung bei Freundinnen und Freunden. Und bei Dates. Männer, die voller Begeisterung nach einer Stunde Gespräch bedenkenlos ihre Hose herunterreißen, machen sich dadurch nicht besonders interessant. Meine Erfahrung. Schauen Sie, das Nackt-Dating-Format von RTL „Adam sucht Eva“ ist auch kläglich gescheitert. Nicht ohne Grund. So viel Information möchten nicht einmal die RTL-Zuseherinnen und Zuseher haben und die sind in dieser Hinsicht wirklich recht schmerzbefreit.

Ich halte es eher für eine Alters- denn eine Generationsfrage. Während sich junge Frauen Anfang zwanzig auf ihren Hochglanzlifestyleblogs noch damit auseinandersetzen, wie sie vier Tage ohne ihren langjährigen Lebensgefährten aushalten sollen, freut man sich in meiner Umgebung schon gerne mal über getrennte Wohnungen, getrennte Freundeskreise und getrennte Urlaube.

„Während sich die Väter an den Schultern junger unbedarfter Frauen ausheulen und sich einen heimlich-verbotenen Kuss er-arbeiten, suchen die Mütter nach dem verloren gegangenen Eigenleben. ,Erotic Crisis à la Yael Ronen.“

Da bilden sich Schicksalsgemeinschaften frischer und temporär alleinerziehender Väter, weil sich ihre Frauen mann- und kinderfreie Wochenenden erbeten. Während sich die Väter an den Schultern junger unbedarfter Frauen ausheulen und sich einen heimlich-verbotenen Kuss erarbeiten, suchen die Mütter nach dem verloren gegangenen Eigenleben. „Erotic Crisis“ à la Yael Ronen.

Mit neunzehn kann man sich noch nicht vorstellen, dass man sich irgendwann einmal die Frage stellt, wie wenig Geheimnis eine Beziehung eigentlich überhaupt verträgt. Und dass man sich wünscht, Nacktheit wäre weniger selbstverständlich, sondern hätte wieder den Reiz des Geheimen.

Foto/Video: Oskar Schmidt.

Geschrieben von Mira Kolenc

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