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Verlorene Zwischentöne – Kolumne von Gery Seidl

Gery Seidl

Wo sind die leisen Zwischentöne in unserer Gesellschaft geblieben? Grundsätzlich gehe ich davon aus, sie sind da, doch drängen sie sich wahrlich nicht mehr auf. Der Druck, den jeder Einzelne verspürt, wird und wird nicht weniger. Auch die kurzzeitige Massage oder die eine oder andere Jogastunde lässt einen nur kurz aus der Welt fliehen, die immer schneller zu laufen scheint. In Familien müssen mittlerweile beide Elternteile arbeiten gehen – so es beide Elternteile noch gibt – um den Standard zu halten. Die Politik versucht einfache Antworten auf nicht gestellte Fragen zu geben und hat längst den Überblick verloren, worum es wirklich geht, bzw. worum es gehen sollte. Die, die lauter sind, gewinnen an Stimmen, unterstützt von Zeitungen, die oft das Papier nicht wert sind und unsere Kinder müssen mit.

„Die, die lauter sind, gewinnen an Stimmen, unterstützt von Zeitungen, die oft das Papier nicht wert sind und unsere Kinder müssen mit.“

Dass es neben meiner natürlich subjektiven Momentaufnahme auch noch ganz andere, bedeutend erfreulichere Kurzbeschreibungen gibt, ist mir klar, doch glaube ich, den größeren Teil zu beschreiben. Der Rest ist die Minderheit. Das sind die, die es sich noch richten können, denen es gerichtet wurde oder die, die im Alleingang schauen für sich
selber ihr Auslangen zu finden.

Ich habe nicht die Sorge, dass wir diesen Zustand noch ein gutes Jahrzehnt halten können, doch dürfen wir uns dann nicht vor den Fragen unserer Kinder fürchten, wenn sie sich zu unserem Beitrag einer besseren Welt erkundigen. Zu unserem Beitrag zur Chancengleichheit. Zu einem Werteverständnis fußend auf moralisch wertvollen Grundsätzen. Zu einer Minderung der Angst- und Panikverbreitung. Zu einem Aufzeigen dessen, was alles richtig läuft und wie viele Helden es in unserer Gesellschaft gibt, denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird.

„Bitte fahren sie sich nicht mit ihrer Zahnbürste ins Auge und schütten sie sich nicht den heißen Café ins Ohr.“

Ich halte es für den falschen Weg sich ständig nach dem Letzten zu orientieren. Wenn ich die U-Bahn betrete und mich die Ansage: „Bitte beachten sie den Spalt zwischen Türe und Bahnsteig“ beschallt, dann halte ich kurz inne und frage mich, wo wir hin wollen? Zum einen wäre ich gar nicht bis zum Bahnsteig gekommen, wenn ich zuvor nicht schon auf geschätzte. 10.000 andere Sachen geachtet hätte, angefangen von: „Bitte fahren sie sich nicht mit ihrer Zahnbürste ins Auge oder schütten sie sich nicht den heißen Café ins Ohr“ bis zu „beachten sie das rote Ampelsignal, es kann ihr Leben verlängern.“ Wo beginnt es und wo hört es auf?

Offensichtlich wurde einmal ein Passant zwischen der Garnitur und dem Bahnsteig eingeklemmt, was den Gesetzgeber sofort veranlasst hat, eine Gesetzesnovelle herauszugeben, dass ab jetzt sowohl optisch als auch akustisch darauf hingewiesen werden muss, bitte nicht in den Spalt zu steigen. Weil unsere Achtung vor Kindern, Alten und Kranken kein Selbstverständnis mehr ist, wird auch darauf hingewiesen, selbigen bitte den Sitzplatz zu überlassen, so man einen hat. Endlos könnte ich und jeder andere aufmerksame Mensch hier Beispiel anführen.
Wir richten uns also nach dem Ungeschicktesten und Unhöflichsten und der Staat hat sich zum Ziel gesetzt ihn so gut als möglich durch das lebensgefährliche Leben zu geleiten. Ein Phänomen. So hat jedes Land seine Gesetzt auch innerhalb der EU und passt so auf seine Schäfchen auf.

Es wird schon lange nicht mehr davon ausgegangen, dass der Mensch grundsätzlich für sich selber verantwortlich ist und er rein evolutionstechnisch im Stande ist eins und eins zusammen zu zählen und somit sein Handeln zu reflektieren. Es wird nicht mehr davon ausgegangen, dass wir dem Anderen nichts Böses wollen, dass wir das Finanzamt nicht betrügen und dass wir vereinbarte Zahlungen an Lieferanten sowieso nicht leisten wollen. Warum ist das so? Wo ist der Handschlag geblieben. Beansprucht tatsächlich eine Lebensmittelkette den Hausverstand für sich alleine?

„Die Ernte, die wir einfahren, ist immer das Ergebnis einer Saat. Dass oft die Generation danach verbrannte Erde vorfindet ist grausam, aber der Lauf der Dinge.“

Die Ernte, die wir einfahren, ist immer das Ergebnis einer Saat. Dass oft die Generation danach verbrannte Erde vorfindet ist grausam, aber der Lauf der Dinge. Lernen wir wieder zwischen den Zeilen zu lesen. Fragen wir nach. Keine Partei kann in einem Zweizeiler die Welt erklären auch wenn sie es noch so lautstark versucht, denn Wahrheiten gibt es so viele, wie es Menschen gibt.

Was den Glauben angeht, muss ich leider sagen: „Er glaubt halt nur“. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Suchen wir wieder nach den Farben zwischen schwarz und weiß.
Großbritannien raus aus der EU oder nicht? Trump oder Clinton? Hofer oder Van der Bellen?

Es sind schon lange nicht mehr Nuancen, die oft zwei Möglichkeiten voneinander unterscheiden. Es sind zwei Weltbilder und der Spalt dazwischen wird immer größer, bei leider immer mehr Entscheidungen. Arm oder reich? Verbrannt oder überflutet?

Strecken wir die Arme aus und schließen den Spalt. Hören wir wieder die leisen Töne. Sehen wir wieder, wie bunt unsere Welt ist. Wir haben für das eine Leben diese eine Welt! Soviel ist fix. Den Rest – muss jeder selber glauben.

Foto/Video: Gary Milano.

Geschrieben von Gery Seidl

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