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Phänomene: Was es mit ihnen wirklich auf sich hat

Phänomene sind etwas Unbequemes. Der Definition nach handelt es sich bei Phänomenen um beobachtbare Erscheinungen, also um etwas, das sich mit unseren Sinnen wahrnehmen lässt. Doch hier endet es auch schon.

Kinder unter fünf Jahren schreiben Anderen Allwissenheit zu. Die Theory of Mind, also die Vorstellung, dass andere einen anderen Wissenshorizont als man selbst hat, entwickelt sich erst später. Kinder unter fünf Jahren denken auch theleologisch, also zielorientiert: Die Wolken sind da, damit es regnet, und es regnet, damit die Pflanzen wachsen können. So gesehen sind Kinder die geborenen Gläubigen, da sie Lücken in ihrem Wissen und Erklärungsmodellen intuitiv durch eine übernatürliche Kraft erklären.

Die große Macht von Religion liegt darin, dass sie uns Erklärungen für Phänomene liefert, für Dinge also, die unsere kognitiven und wissenschaftlichen Kapazitäten überschreiten. Die Omnipräsenz von Religionen in nahezu allen menschlichen Kulturen lässt sich wohl genau dadurch erklären. Nichts macht uns nämlich so zu schaffen wie Dinge die wir nicht erklären können. Die überirdische Kraft, die Göttlichkeit kann genau dazu genutzt werden, jenseits von Rationalität und Wissenschaftlichkeit für all jenes verantwortlich zu sein, das ansonsten als Phänomen, als ungelöstes Rätsel einen Quell von Unsicherheit darstellen würde. Psychologisch erwerben wir uns also durch die Religion eine Form der Beruhigung, die unseren Geist, der alles erklären will, zur Ruhe kommen lässt. Man bedient sich des Übernatürlichen, um eine Erklärung für Phänomene jenseits der wissenschaftlichen Erklärbarkeit zu finden. Deshalb sind wohl auch Religionen so weit verbreitet.

Was sind Phänomene?
Versuchen wir uns Phänomene am Beispiel der visuellen Wahrnehmung vorzustellen: Der Prozess des Sehens ist durch sensorische und kognitive Prozesse geprägt, deren Zusammenspiel Lichtreize in wahrgenommene Objekte übersetzt. Licht trifft auf das Auge, wird durch den optischen Apparat gebündelt und trifft dann auf die Netzhaut, wo der Lichtreiz in elektrische Signale übersetzt wird. Komplexe Verschaltungen der Nerven in der Netzhaut nehmen eine erste Interpretation der Lichtreize wahr, und führen so zu Kontrastverstärkung und Bewegungswahrnehmung. Bereits in der Retina erfolgen also eine Interpretation des Lichtes, und eine Entfernung vom reinen Phänomen. Eine weitere Integration und Interpretation erfolgt dann in der Sehrinde des Gehirns, sodass das was wir als kognitives Ereignis erleben, entsteht. All unsere Wahrnehmung ist also Resultat eines komplexen Zusammenspiels von Vorgängen in unserer Umwelt und dem sensorischen und kognitiven Apparat. Die Wahrnehmung von Phänomenen ist also an sich schon nicht objektiv. Vielmehr sind unsere Sinne und unser Gehirn auf einen Mesokosmos zugeschnitten, der unsere biologischen Bedürfnisse mehr oder weniger abbildet. Sowohl im Mikro- als auch im Makrokosmos stoßen wir an unsere Grenzen. Während die Unzugänglichkeit und Unbeobachtbarkeit im Mikrokosmos sowohl in den Grenzen der sensorischen Wahrnehmung als auch in der kognitiven Verarbeitung liegen, gehen Ereignisse des Makrokosmos hauptsächlich im kognitiven Sinne über unseren Horizont.

Erklärung als Ende

Da Phänomene jenseits unserer Erklärungs- und Verständniswelt liegen, sind sie nicht statisch. Vielmehr endet ihr Dasein als Phänomen, wenn es der Wissenschaft gelungen ist, eine Erklärung zu liefern. Die Erklärung kann auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen, und erst wenn alle Ebenen geklärt sind, kann man von einem wissenschaftlichen Fakt sprechen.

Zentrale Fragen der Forschung

Der Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen (1951) formulierte vier Fragen, deren Beantwortung notwendig sei, um Verhalten zu verstehen. Diese vier Fragen sind die zentralen Leitfragen, die die Forschung in der Biologie antreiben. Wichtig dabei ist der Blick auf das Ganze, also nicht das Begnügen mit einer Antwort, sondern die Betrachtung aller Aspekte:
Die Frage nach der unmittelbaren Ursache beschäftigt sich mit den physiologischen Mechanismen, die einem Verhalten zugrunde liegen. Die Frage nach der ontogenetischen Entwicklung untersucht, wie dieses im Laufe des Lebens entsteht. Die Frage nach dem Anpassungswert untersucht die Funktion, das Ziel des Verhaltens. Die Frage nach der evolutionären Entwicklung beschäftigt sich mit den Rahmenbedingungen unter denen das Verhalten entstanden ist.

Überschätzte Wissenschaft

Da Unwissen mit Unsicherheit einhergeht, tendieren wir dazu, unser Wissen zu überschätzen, und auch in Bereichen, wo die Wissenslage äußerst beschränkt ist, von einer fundierten Faktenlage auszugehen. Unser Streben nach Antworten führt dazu, dass wir die Erklärungsmacht der Wissenschaften überschätzen, was zu einer Überbewertung der Erkenntnisse wissenschaftlicher Studien führt. Gleichzeitig gerät die Wissenschaft zunehmend unter Beschuss: Erkenntnisse, die als gesichert angesehen waren, können nicht reproduziert werden. Widersprüchliche Studien gelangen zu entgegengesetzten Aussagen zum selben Thema. Wie sollen derlei Entwicklungen eingeordnet werden? Während Wissenschaft dazu beiträgt, ein besseres Verständnis der Zusammenhänge zu erwirken, liefert sie so gut wie nie definitive Antworten.

Unser Denken
Die kognitiven Mechanismen und Entscheidungsstrategien des Menschen sind ein Spiegel dieser Dichotomie von Phänomenen und erklärbaren Ereignissen. Wie Daniel Kahnemann in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ beschreibt, scheint unser Denken in zwei Schritten zu erfolgen: Auf einer phänomenologischen Ebene, mit lückenhafter Datenlage und mangelhaftem Wissen über die Zusammenhänge, kommt das System 1 zum Einsatz. Es ist schnell und emotional gefärbt, und es führt zu automatischen, unbewussten Entscheidungen. Die gleichzeitige Stärke und Schwäche dieses Systems ist seine Robustheit gegenüber Wissenslücken. Unabhängig von der Vollständigkeit der Datenlage werden Entscheidungen getroffen.
Das System 2 ist langsamer und durch bewusste und logische Abwägung gekennzeichnet. Die meisten Entscheidungen treffen wir mit Hilfe von System 1, nur wenige werden auf die zweite Ebene gehoben. Man könnte also sagen, dass unser Denken sich über lange Strecken mit reinen Phänomenen zufrieden gibt, und nur selten nach einem tieferen Verständnis fragt. Es ist dadurch anfällig, aufgrund simpler Heuristiken unrealistische Denkweisen anzunehmen. Unsere Schwierigkeiten, mit Wahrscheinlichkeiten und Häufigkeiten umzugehen, sind in der Dominanz des System 1 begründet. Nur durch bewussten Einsatz des System 2 können wir ein Verständnis von der Natur und des Ausmaßes von Zusammenhängen erlangen.

Die Verantwortung der Entscheidung

Für eine differenzierte Berichterstattung über wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen in der medialen Welt oft der Raum und die Zeit. Deshalb bleibt es in der Verantwortlichkeit der Einzelnen, sich dieses differenzierte Bild zu schaffen, und abzuwägen, wie diese Erkenntnisse sich auf unser Handeln auswirken sollten. Während jeder Gewinn an zusätzlichem Wissen uns in die Lage versetzt, besser informierte Entscheidungen zu treffen und so unser Handeln zu optimieren, wird der Prozess dadurch meist nicht vereinfacht, sondern vielmehr komplexer. Nicht nur die Anzahl der Faktoren, sondern auch ihre Relevanz sollten in die Überlegungen miteinbezogen werden.

Informierte Entscheidungen auf der Basis komplexer Zusammenhänge zu treffen ist also eine aufwendige Angelegenheit. Nicht nur aufgrund von Bequemlichkeit, sondern auch aufgrund der Notwendigkeit, laufend Entscheidungen zu treffen, verzichten wir bei einem Großteil auf eine differenzierte Betrachtung. Wir verlassen uns auf phänomenaler Ebene auf unser Bauchgefühl, um nicht handlungsunfähig zu werden. Dies ist eine durchaus adaptive Strategie, die für die kleinen Alltagshandlungen durchaus ihre Berechtigung hat. Für Grundsatzentscheidungen, die unsere Handlungswelt umfassend beeinflussen, ist eine tiefgehende Reflexion unverzichtbar: Grundlegende Überlegungen zu Demokratie, Nachhaltigkeit, oder Lebensziele können, sofern informiert und differenziert, einen soliden Rahmen darstellen, der unsere schnellen Entscheidungen formt.

Neue Informationen können diesen Rahmen verändern. Nur wenn wir unseren Entscheidungsrahmen laufend anpassen, verhindern wir Stillstand – auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene. Weiterentwicklung ist das Herzstück funktionierender Systeme. Die Akzeptanz des Status quo als unveränderlich steht diesem Prozess im Wege. Am Anfang steht immer das Nichtwissen; nur durch die Generation von Wissen kommt es zu Weiterentwicklung. Die Anerkennung von Phänomenen, und somit von Dingen jenseits dessen was Wissenschaft erklären kann, oder was Mensch verstehen kann, erfordert eine offene Geisteshaltung, die auch Dinge akzeptieren kann, die die kognitiven Grenzen überschreiten.

Foto/Video: Shutterstock.

Geschrieben von Elisabeth Oberzaucher

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