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Misfits – gegen den Mainstream

Was bewegt Einzelne, von der Richtung des Mainstreams abzuweichen? Ist es doch so viel einfacher und bequemer, in der Masse unterzugehen. Gibt es Menschen, die einfach zum Anderssein geboren sind? Wäre es nicht besser, wenn alle am selben Strang ziehen? Sind „Querulanten“ oder Misfits etwas, womit wir leben müssen, oder sind sie gar gut für uns?

Misfits - Gegen den Mainstream

„Gewinnt die Tradition Oberhand und lässt keine neuen Wege zu, macht sich die Gesellschaft unbeweglich.“

Wenn einzelne gegen den Strom schwimmen, dann setzt das voraus, dass die meisten anderen in dieselbe Richtung unterwegs sind. Wenn sich viele gleich verhalten, kann das auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen sein. Evolutionsgeschichtlich betrachtet ist das Mit-Dem-Strom-Schwimmen aus individueller Sicht eine nützliche Strategie, weil sie auf der Annahme beruht, dass wenn diese sich für andere erfolgreich gezeigt hat, sie dann wahrscheinlich auch weiterhin einen positiven Ausgang verspricht. Deshalb sind diejenigen, die sich so verhalten wie viele andere vor und neben ihnen, häufiger anzutreffen als jene, die ihren eigenen Weg gehen wollen. Für das Individuum ist es also meist günstiger, mit der großen Masse mitzuschwimmen, für die Gemeinschaft hingegen sind die Träumer, die Unangepassten, die Innovativen unverzichtbar.

Für eine Population ist eine ausgewogene Mischung zwischen Tradition und Innovation notwendig, um ihr Fortbestehen zu sichern. Gewinnt die Tradition Oberhand und lässt keine neuen Wege zu, macht sich die Gesellschaft unbeweglich und kann auf Veränderungen nicht reagieren. Selbst wenn die optimalen Lösungen für die aktuell herrschenden Bedingungen gefunden wurden, ist es keine gute Idee, diese zum alleinigen Standard zu erheben. Die Welt ist nämlich nicht statisch, vielmehr ist sie von ständig wechselnden Rahmenbedingungen geprägt. Nur Variabilität innerhalb einer Gesellschaft erlaubt es, auf diese Veränderungen resilient zu reagieren. Sie stellt sicher, dass Beweglichkeit erhalten bleibt, die erforderlich ist, um mit neuen Bedingungen umzugehen.

Misfits oder eine Frage der Persönlichkeit

Jene, die mit dem Strom schwimmen, gehen den einfachen Weg, riskieren nichts, und sparen ihre Energie. Sie sind die Angepassten, die Traditionalisten, die Konservativen. Sie sind jene, die das Bestehende aufrecht erhalten. Sie sind auch diejenigen, an denen andere weniger anecken. Jene, die gegen den Strom schwimmen sind viel unbequemer: Sie sorgen für Turbulenzen, sind im Weg und stören eingefahrene Prozesse in ihren Abläufen.

Individuelle Unterschiede im Verhalten gehen auf unterschiedliche zugrundeliegende Persönlichkeitsstrukturen zurück. Das am weitesten verbreitete Persönlichkeitsmodell geht von fünf unterschiedlichen Dimensionen der Persönlichkeit aus: Emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, soziale Verträglichkeit und Offenheit für neue Erfahrungen. Letztere ist jene, die wohl hauptverantwortlich dafür ist, in welchem Ausmaß jemand bereit ist, ausgetretene Pfade zu verlassen. Studien haben gezeigt, dass Menschen, deren Offenheit für neue Erfahrungen überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist, auch ihr Verhalten entsprechend ausrichten.

Veränderung braucht Flexibilität

Evolutionsgeschichtlich betrachtet ist es kein Zufall, dass nicht alle Menschen die gleiche Persönlichkeit haben. Vielmehr macht die Buntheit, der Mix, die Vielfalt eine Population widerstandsfähig. Die Lebensbedingungen und die damit verbundenen Herausforderungen verändern sich ständig. Deshalb ist es notwendig, dass auch laufend neue Sichtweisen, Herangehensarten und Lösungsansätze miteinander im Wettstreit stehen. Oft gibt es mehr als eine Antwort auf eine Frage, und oft ist die Antwort, die lange gültig war, plötzlich nicht mehr richtig. Die Beschleunigung, die die Veränderung unserer Lebensumwelt durch Technologien erfährt, macht es auch umso notwendiger, dass wir flexibel in unseren Antworten bleiben. Diese Flexibilität erreichen wir als Gesellschaft dadurch, dass individuelle Variabilität besteht.

Es passiert häufig, dass das Anderssein Misfits zum Vorwurf gemacht wird. Da ist es völlig gleichgültig, ob das Anderssein durch Überzeugungen und Einstellungen zustande kommt, oder ob es in dem Erscheinungsbild, sexueller Orientierung, oder Gender liegt. Eine Abweichung vom Mainstream bedeutet, dass die gängigen Schubladen und Strategien hier ungeeignet sind. Misfits sind somit schwer zu verstehen, es reicht nicht, einfach eine Schablone über sie zu legen. Sie erfordern es, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen, weil wir noch keine etablierten Konzepte für sie haben.

Den damit verbundenen Aufwand verübeln wir ihnen, weil sie uns den einfachen Weg versagen. Dabei ist es für das erste völlig irrelevant, ob das Anderssein unter Umständen einen wünschenswerten Effekt auf die Gesellschaft mit sich bringt. Ob es sich also um Menschen handelt, die entgegen der Haltung der Masse Werte wie Nächstenliebe auf ihre eigenen Kosten propagiert, oder um Menschen, die im blinden Verfolgen ihrer eigenen Ziele zu Querulanten für alle anderen werden – solche Verhaltensmuster entsprechen nicht dem Durchschnitt.

Misfits und Raum für Entfaltung

In einer Gesellschaft sind diese Unangepassten von unersetzbarem Wert. Deshalb sollten wir es uns zur Kultur machen, die Variabilität zu umarmen, ihr wertschätzend gegenüberzutreten, und – was vielleicht am allerwichtigsten ist – ihr Raum zu geben, um sich zu entfalten.
In einer sich ständig wandelnden Welt sind die Misfits von heute möglicherweise die Anführer von morgen. Da Tradition und das Beschreiten eingefahrener Wege meist geringere Risiken mit sich bringt als das Ausprobieren von Neuem, sind die Innovativen meist nicht besonders zahlreich. Umso wichtiger ist es für eine Gesellschaft, für ein Klima zu sorgen, das das Abweichen vom Status quo fördert, um durch die so geförderte Pluralität die Aussichten auf ein Fortbestehen der Gesellschaft zu erhöhen.

Dass das für die Einzelnen bedeutet, dass sie da und dort aus ihrer Komfortzone gedrängt werden, um den Turbulenzen auszuweichen, ist ein vergleichsweise kleiner Preis für eine offene, innovative, resiliente Gesellschaft. Im diesjährigen Europäischen Forum Alpbach war ebendiese Resilienz Thema der Gespräche. Auch wenn die Antwort unbequem erscheinen mag, die Evolution hat sie schon lange gefunden: Pluralität ist der beste Garant für eine nachhaltig erfolgreiche Gesellschaft. Sorry, Misfits!

INFO: Misfits als Überlebensversicherung
Erst vor kurzer Zeit haben australische Forscher eine neue These zum Aussterben des erfolgreichsten Vorfahren der modernen Menschen aufgestellt. Homo erectus ist jene Menschenart, die bisher am längsten auf der Welt existierte und auch erfolgreich beinahe den gesamten Globus besiedelte. Bekannt ist sie auch für zahlreiche Steinwerkzeuge, die charakteristisch für die Altsteinzeit sind. Die Natur dieser Werkzeuge gibt Aufschluss darüber, wie Homo erectus gelebt hat, woraus die Nahrung bestand, und wo überall Vertreter gelebt haben. Doch nicht nur das: Aus der spezifischen Struktur der Werkzeuge können Rückschlüsse auf die kognitiven Strategien dieser frühen Menschenart gezogen werden. Die Wissenschafter von der Australian National University sind zu dem Schluss gekommen, dass Homo erectus sehr faul war, und dazu neigte, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Das heißt, sie fertigten Werkzeuge immer nach demselben Muster an, verwendeten nur Steine, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, und waren zufrieden mit dem Status quo. Kurz gesagt, sie hatten eine erfolgreiche Strategie gefunden, die dann von allen verfolgt wurde, und es fehlten jene, die gegen den Strom schwammen. Der Mangel an Innovation wurde Homo erectus letztlich zum Verhängnis, als sich die Lebensbedingungen veränderten. Andere Menschenarten mit beweglicheren kognitiven Strategien und mehr Vielfalt in ihren Herangehensweisen waren da eindeutig im Vorteil, und überlebten den konservativen Homo erectus.

INFO: Wenn der Einheitsbrei nicht schmeckt
Die zentrale Aussage von Charles Darwins Evolutionstheorie beschreibt die Anpassung von Organismen an die Umgebung als fundamentalen evolutionären Prozess. In diesem Gedankenkonstrukt ist ein perfekt angepasster Organismus das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses. Diese Idee lässt jedoch einen nicht unwesentlichen Faktor außer Acht: Die Umweltbedingungen können sich ändern. Nachdem Lebensbedingungen nicht stabil sind, sondern einer ständigen Veränderung unterliegen, müssen auch Organismen sich ständig wandeln, um mit ihnen zurechtzukommen.
Nun ist es aber nicht so, dass diese Veränderungen einem bestimmten Muster folgen, und somit vorhersagbar wären, vielmehr sind sie zufällig und es ist unmöglich, Prognosen abzugeben. Organismen sind deshalb immer an ihre evolutionäre Vergangenheit angepasst, und nicht an die aktuellen Bedingungen. Je instabiler eine Lebensumwelt ist, desto unzuverlässiger sind die Prognosen. Deshalb ist die aktuell gültige Evolutionstheorie erweitert um die Notwendigkeit, nebst der Anpassung an die aktuellen Lebensbedingungen ein gewisses Ausmaß an Variabilität und Flexibilität zu erhalten. Die Variabilität ist keine Garantie darauf, mit neuen Umständen besser zurechtzukommen, vielmehr ist sie vergleichbar mit einer Wette, bei der man nicht alles auf eine Karte setzt.
Dies bedeutet für die Evolutionstheorie eine Weiterentwicklung weg von einem immer engeren Spektrum eines volloptimierten Organismus, hin zu einem Mix aus Tradition und Variation. Je nach Variabilität der Lebensbedingungen ist das Verhältnis dieser beiden Faktoren unterschiedlich ausgeprägt: Lebewesen, die unter sehr stabilen Bedingungen leben, wie beispielsweise Schwefelbakterien, sind eher konservativ. Sie sind optimal auf ihre Lebensbedingungen angepasst, können allerdings nur unter ganz bestimmten Bedingungen leben. Bei anderen Organismen, die unter stark variablen Bedingungen leben, überwiegt die Innovation.

Foto/Video: Gernot Singer.

Geschrieben von Elisabeth Oberzaucher

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