Sozialdemokratische Parteien befinden sich scheinbar auf direktem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit. Seit Beginn des Milleniums erlitten sie mitunter dramatische Verluste. Allen voran in Griechenland (-37,5 Prozent), Italien (-24,5 Prozent) und Tschechien (-22,9 Prozent). Aber auch in Deutschland, Frankreich oder Ungarn liegen ihre Wahlverluste im zweistelligen Bereich.
„Die Bildungseliten wählen heute links, die Wohlstandseliten nach wie vor rechts. Mit anderen Worten – beide Großparteien haben sich zu Elitenparteien entwickelt und die weniger Gebildeten und die Arbeiter ohne Partei übrig gelassen.“
Thomas Picketty
Schieflage bei Einkommen & Steuern
Angesichts der ausreichend vorhandenen Schieflagen, die unsere „hoch entwickelten“ Industriestaaten heute kennzeichnen, ist dieser massive politische Niedergang nur schwer nachvollziehbar. Zu tun gäbe es nämlich mehr als genug. Besitzen doch im gesamten Euroraum nach wie vor die reichsten fünf Prozent insgesamt 38 Prozent des Gesamtvermögens, also aller Aktien, Immobilien und Unternehmensbeteiligungen. Im Vergleich dazu besitzt in Österreich bereits das reichste Prozent der Haushalte 41 des Gesamtvermögens. Zu diesem Ergebnis kamen vor Kurzem Ökonomen der Johannes Kepler Universität Linz, die den Versuch unternommen haben das kaum (er)fassbare Vermögen der Reichsten zu schätzen und in ihren Berechnungen zu berücksichtigen.
INFO: Sozialistische Ideale
Eine globale Umfrage des Marktforschers Ipsos hat 20.793 Menschen in 28 Ländern zu ihrer Meinung über sozialistische Werte befragt: Die Hälfte der Menschen weltweit stimmt zu, dass heute sozialistische Ideale von großem Wert für den gesellschaftlichen Prozess seien. Es verwundert nicht, dass die stärkste Zustimmung aus China kommt aber auch in Indien (72 Prozent) und Malaysia (68 Prozent) schließen sich Mehrheiten dieser Meinung an. Die USA (39 Prozent), Frankreich (31 Prozent) und Ungarn (28 Prozent) sind sozialistischen Idealen deutlich weniger zugeneigt. In Japan glaubt sogar nur jeder fünfte Befragte (20 Prozent), dass sozialistische Ideen von Wert für den gesellschaftlichen Prozess seien.
Obwohl diese Vermögensschieflage auf ein „sozialdemokratisch geprägtes Land“ einen besonders langen Schatten wirft, kennzeichnet sie heute die gesamte westliche Welt. Der viel beachtete französische Ökonom Thomas Picketty stellte fest, dass „der Besitz von Vermögen in der Nachkriegszeit noch nie so konzentriert war wie heute und Steuern auf Vermögen im internationalen Vergleich nach wie vor nur einen sehr kleinen Teil zum Gesamtsteueraufkommen beitragen.“ Ein Blick auf das Steueraufkommen ist in diesem Zusammenhang tatsächlich aufschlussreich: Während die arbeitende Bevölkerung im vergangenen Jahr insgesamt 26 Prozent des gesamten Steueraufkommens leistete (Lohnsteuer), betrug der Beitrag der Kapitalgesellschaften (Einkommens- und Gewinnsteuer) läppische neun Prozent. Im Verhältnis dazu trugen Vermögenssteuern ganze Null Euro zum Staatshaushalt bei, weil sie hierzulande schlichtweg nicht existieren.
Eben aus diesem Grund ist es schwer nachzuvollziehen, dass gerade jene politische Kraft, für die Verteilungs- und Wirtschaftspolitik ein Urthema darstellen und soziale Ungleichheit ihre historische Geburtsstunde markiert, dermaßen niedergeht. Oder ist die vorherrschende Ungleichheit gar der Grund, warum die Sozialdemokraten in den Augen ihrer Wähler ihre „wirtschaftliche Kompetenz“ einbüßen mussten? Hatten sie doch hier wie dort diese Wirtschaftspolitik lange Zeit mitgetragen.
Sozialstaat vs. Sozialdemokraten
Oder hat etwa der Sozialstaat selbst die Sozialdemokratie gekillt? Ein Großteil ihrer traditionellen Forderungen – etwa Arbeiterschutz, progressive Einkommenssteuer, Wahlrecht, etc. – sind ja heute schlichtweg gesellschaftliche und gesetzliche Realität. Und die Zahl und Vielfalt der verfügbaren Sozialleistungen – nicht zu verwechseln mit ihrer Treffsicherheit – scheint schier unendlich. Letztendlich steigen auch Sozialausgaben wie Sozialquote seit Jahrzehnten und trotz Einsparungskuren sukzessive an, sodass wir immerhin ein Drittel unserer gesamten Wertschöpfung für Sozialleistungen ausgeben. Von einer Demontage des Sozialstaates sind wir damit jedenfalls weit entfernt.
Das Wählerpotential
Und dennoch sieht es in diesem Land keineswegs allzu rosig aus. Knapp ein Fünftel der Bevölkerung ist armutsgefährdet, zwei Fünftel verdienen so wenig, dass sie unter die Einkommenssteuergrenze fallen und über ein Drittel der Beschäftigten ist in prekären Beschäftigungsverältnissen gefangen. Alles in Allem wäre das doch ein beachtliches Wählerreservoir für die Sozialdemokraten. Irrtum.
Eben dieses Klientel wählte zuletzt eine Regierung ins Amt, die scheinbar konsequent daran arbeitet ihre soziale Lage zu verschlechtern. Dabei zeigt sie sich gegenüber Arbeitern, Arbeitslosen, Mindestsicherungsempfängern, Ausländern und Asylwerbern (auch subsidiär Schutzbedürftiger) besonders einfallsreich. Was ihre Steuersenkungspläne betrifft so scheinen die unteren 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung schlichtweg nicht zu existieren. Der Ökonom Stephan Schulmeister konstatierte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit dem Standard: „Es wäre nicht das erste Mal, dass die Leidtragenden ihren Metzger selbst wählen“.
Es wäre jedoch zu einfach, den Niedergang der Sozialdemokraten lediglich auf die schlichten Gemüter der Wähler zurückzuführen. Damit würde man Millionen Menschen pauschal geistige Verarmung attestieren und die Genossen letztendlich davon abhalten ihre Arbeit selbstkritisch zu reflektieren.
Das Gemüt des Wählers
Wesentlich aufschlussreicher ist dabei ein Blick auf die schleichenden Veränderungen der Wählerschaft. Die letzte Nationalratswahl zeigte sehr deutlich, dass sich die FPÖ mittlerweile zu der „Arbeiterpartei“ entwickelt hat, während die SPÖ vor allem bei Akademikern und Pensionisten punktete. Die SORA-Wahlanalyse zeigte auch deutlich, dass das Gemüt für das Wahlverhalten teilweise entscheidender war als Bildungsabschluss und Erwerbsstatus. So entschied sich etwa die Hälfte jener Österreicher, die die Entwicklung im Land grundsätzlich als positiv erachten, für die SPÖ (FPÖ: vier Prozent). Von jenen, die die Entwicklung in Österreich eher negativ empfinden, wählte rund die Hälfte wiederum die FPÖ (SPÖ: neun Prozent). Ähnlich verhielt es sich bei der subjektiv empfundenen (Un)Gerechtigkeit im Land.
Politik der Eliten
Dieser Trend lässt sich auch in Frankreich, Großbritannien oder den USA beobachten. Thomas Picketty untersuchte kürzlich die dortige Wählerschaft und stellte dabei fest, dass auch ihre Linksparteien immer stärker durch gebildete Eliten vereinnahmt werden. Dies ist seines Erachtens auch der Grund, warum sich westliche Demokratien so schwer damit tun gegen Ungleichheit vorzugehen, denn „die Bildungseliten wählen heute links, die Wohlstandseliten nach wie vor rechts.“ Mit anderen Worten – beide Großparteien haben sich zu Elitenparteien entwickelt und die weniger Gebildeten und die Arbeiter ohne Partei übrig gelassen. Seine Empfehlung für eine sozialdemokratische Überlebensstrategie ist eindeutig eine klare linke Wirtschaftspolitik, allem voran Vermögenssteuern.
Mehr links und rechts
Politikwissenschafter in Deutschland wie in Österreich beobachten ebenfalls, dass sich immer mehr Wähler ökonomisch links, gesellschaftspolitisch jedoch rechts oder konservativ positionieren. Angesichts dessen sieht der deutsche Politikwissenschafter Andreas Nöpke die Strategie zur Rückgewinnung einer Mehrheitsperspektive darin „nicht nur sozioökonomisch eine konsequente Politik für die unteren 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung zu machen, sondern auch jenen Menschen entgegenzukommen, die Vorbehalte gegenüber einer ungebremsten Globalisierung hegen“ und „sich um die langfristige Schwächung des Sozialstaates durch Migration und eine supranational-liberalisierende EU sorgen“.
Er bemerkt in diesem Zusammenhang auch, dass „politische Positionen, die diesen Sorgen entgegenkommen, häufig als „rechts“ wahrgenommen werden. Das ist allerdings ein Trugschluss“. Seine „linkspopuläre Option“ verfolgt einerseits klar sozialdemokratische Werte, doch akzeptiert gleichzeitig dass transnationale Solidarität nur in Grenzen möglich ist. Sie ist dabei explizit weder ausländerfeindlich noch rassistisch, doch sie steht etwa der Idee von offenen Grenzen und einer weiteren Stärkung der EU skeptisch gegenüber. Dieses Konzept einer linken, kommunitaristischen (als Gegensatz zur kosmopolitischen) Politik würde auf die schleichenden Veränderung der Wählerschaft reagieren.
An gut gemeinten Ratschlägen für die Sozialdemokraten mangelt es derzeit jedenfalls nicht. Sie reichen von „mehr links und grün“ (Elmar Altvater) bis hin zu einem „starken europäischen Bündnis der Linksparteien, inklusive der Postkommunisten des Südens und Ostens und der Zivilgesellschaft“ (Werner A. Perger). Die Auswege aus der Krise beschäftigen zur Zeit viele Politikwissenschafter, Beobachter und nicht zuletzt auch die sozialdemokratischen Parteien selbst. Es bleibt jedenfalls spannend abzuwarten was Christian Kerns SPÖ-Reform, ebenso wie das „Laboratorium“ der Europäischen Sozialdemokraten in den nächsten Wochen hervorbringen werden.
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