Menschen verfolgen ihre eigenen Ziele ohne zu bedenken, wie sich dies auf andere auswirkt. Dies führt unweigerlich zur Frage, ob die Natur der Menschen von sich aus eine intolerante ist. Ein Blick in die Evolutionsgeschichte bringt Licht in die Angelegenheit. Für alle in Gruppen lebenden Tiere ist die Begabung zur Toleranz Grundvoraussetzung dafür, dass das soziale Miteinander überhaupt funktionieren kann. Das Zusammenleben bringt nämlich unweigerlich Situationen mit sich, in denen die individuellen Ziele der einzelnen Mitglieder nicht miteinander vereinbar sind. Diese bergen Konfliktpotential in sich, und wenn die Fähigkeit zur Toleranz nicht gegeben wäre, würde jede dieser Situationen eskalieren. Da die Kosten von Konflikten im Vergleich zu den potentiellen Nutzen viel höher sind, fällt die Entscheidung meist zugunsten der Toleranz aus.
Als unsere Vorfahren durch einen Klimawandel gezwungen wurden, vom Regenwald in die Savanne auszuwandern, standen sie vor völlig neuen Herausforderungen. Raubfeinde, die zuvor eine geringe Rolle gespielt hatten, waren nun ein echtes Problem. Um dem Gefressen werden etwas entgegensetzen zu können, schlossen sich unsere Vorfahren in großen Gruppen zusammen. In Gruppen sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Einzelne einem Raubfeind zum Opfer fällt, aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer Mechanismen. Andererseits ist das Gruppenleben selbst nicht automatisch harmonisch. Ob es um Nahrung oder um andere Ressourcen geht, stehen die Interessen der Individuen oft in Konkurrenz zueinander. Nur mithilfe von Regeln kann das Gruppenleben so funktionieren, dass diese Situationen nicht eskalieren.
INFO: Eine egoistische Herde von Altruisten
Bill Hamilton hat den Begriff der “selfish herd” geprägt. Dieser ist irreführend aus zweierlei Gründen: Auf den ersten Blick suggeriert er ein kollektives Bewusstsein einer Gruppe, das egoistische Tendenzen hat. Außerdem ist der Eigennutz sehr zentral in dem Begriff, was sehr nach Ellbogentaktik und Intoleranz klingt. Eben Egoismus. Betrachtet man aber genauer, was Hamilton mit diesem Begriff beschreibt, enthüllt sich ein differenzierteres Bild: Individuen schließen sich zu Gruppen zusammen, weil es ihrem eigenen Fortkommen dient – soweit geht der Egoismus. Das Gruppenleben setzt aber voraus, dass die Mitglieder tolerant miteinander umgehen. Soziale Gruppen sind keine unstrukturierten Ansammlungen, sondern vielmehr komplexe Einheiten, die durch soziale Regelwerke strukturiert werden. So gibt es beispielsweise Mechanismen, die kontrollieren, ob die einzelnen Mitglieder nach den Regeln spielen oder diese verletzen. Reine Egoisten sind in Gruppen unerwünscht, und solches Verhalten wird geächtet, bestraft oder mit Ausschluss von der Gruppe bestraft. Spieltheoretische Modelle zeigen, dass in sozialen Gruppen die einzelnen Mitglieder davon profitieren, anderen gegenüber tolerant zu sein, und sich deren Zielen nicht in den Weg zu stellen. Dieser Zugang öffnet die Möglichkeit für das Verfolgen von größeren Zielen, die eine Zusammenarbeit voraussetzen. Am Ende profitieren jene, die dazu in der Lage sind, eine Balance zu finden, die Toleranz mit Kontrolle vereint, sodass Toleranz Grundvoraussetzung für das Miteinander wird.
Egoismus & Kontrollmechanismen
Für die Gruppenmitglieder galt, dass das Dasein in der Gruppe so vorteilhaft war (weil man nicht vom nächsten Säbelzahntiger gefressen wird, der vorbeikommt), dass es sich lohnte, eine besonders süße Frucht anderen zu überlassen, oder nicht den bequemsten Schlafplatz zu bekommen. Trotz dieser einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung ist es nicht automatisch so, dass alle Gruppenmitglieder “Leben und leben lassen” zu ihrem Motto machen. Deshalb haben sich Kontrollmechanismen entwickelt, die dafür sorgen, dass die Großmütigkeit nicht ausgenutzt wird. Im Wesentlichen stellten diese sicher, dass das Entgegenkommen kein einseitiges war, und dass jene, die sich als Egoisten nur die Rosinen aus dem Gemeinschaftskuchen picken wollten, nicht gern in der Gruppe gesehen waren. Diese Mechanismen funktionierten sehr gut in den Gruppen, in denen unsere Vorfahren einen Großteil ihrer Geschichte verbrachten. Lange überstieg die Anzahl der Gruppenmitglieder selten die 200er Grenze. Das ist eine Gruppengröße, die es zulässt, dass sich alle persönlich kennen, und somit verschwindet niemand in der Anonymität. Erst mit der Sesshaftwerdung und dem Entstehen erster Städte wurden die Siedlungen größer.
Die Mutter des Egoismus
Diese großen Ansammlungen von Menschen sind nicht nur sozial komplex und erlauben das Entstehen von Anonymität, sie bedeuten deshalb auch, dass die im Laufe der Evolution entstandenen Kontrollmechanismen, die gegen ein Ausgenutztwerden schützten, nicht mehr so gut funktionieren.
Der Egoismus und der Mangel an Toleranz, die wir heute beobachten, liegen also eigentlich nicht in der Natur der Menschen. Vielmehr ist es so, dass sie dadurch entstehen, dass die biologisch bedingten Verhaltenstendenzen durch die geänderten Lebensbedingungen nicht mehr greifen. Das was im Laufe unserer Evolutionsgeschichte sicherstellte, dass unsere Vorfahren einander mit Toleranz und Respekt begegneten, versagt im anonymen Verband.
Müssen wir deshalb verzweifeln und uns dem Schicksal hingeben, dass die Großstadtbewohner eben nicht anders können als egoistisch ihre Ellbogen auszufahren, sich über ihre Mitmenschen zu echauffieren und grantelnd durch das Leben zu gehen? Glücklicherweise ist Homo sapiens wie sein Name sagt, mit einem leistungsstarken Denkorgan ausgestattet. Dieses vergleichsweise übergroße Gehirn befähigt uns, mit neuen Problemen und Herausforderungen in einem Ausmaß umzugehen, das über die einfachen Lösungen hinausgeht.
Der Erfolg von Homo sapiens beruht zum größten Teil auf der Fähigkeit, auf veränderte Lebensbedingungen schnell reagieren zu können. So mag zwar die Biologie keine Antwort auf die Frage bieten, wie wir in anonymen Verbänden Toleranz an die Stelle von Egoismus rücken, das Sozial- und Kulturwesen Mensch ist dazu sehr wohl in der Lage. Durch informelle Regeln und formale Gesetze stellen wir sicher, dass unser Miteinander von gegenseitigem Respekt geprägt ist und ein rücksichtsloses Verfolgen der eigenen Ziele geächtet oder bestraft wird.
Im allgemeinen funktioniert dies sehr gut. Hätten die Stimmungsmacher mit ihrer Schwarzmalerei recht, wäre ein friedliches Miteinander in der Großstadt unmöglich. Doch gerade dadurch ist unser Alltag geprägt. Wir halten einander die Tür auf, stehen in der Straßenbahn auf, wenn wir der Meinung sind, dass jemand anderer den Sitzplatz nötiger hat als wir selbst, werfen den Müll in den Papierkorb und nicht einfach auf die Straße. Diese Liste von kleinen Gesten gegenseitiger Toleranz ließe sich noch lange fortsetzen. Sie sind für uns so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht wahrnehmen. Sie sind so sehr Teil unseres Alltags, dass wir erst aufmerksam werden, wenn die erwartete Geste des Entgegenkommens ausbleibt.
Positiv vs. Negativ
Unsere Wahrnehmung ist alles andere als wahr, was die Abbildung von Wahrscheinlichkeiten betrifft. Im Gegenteil: Besonders jene Dinge, die außerordentlich selten auftreten, fallen uns auf. Dies mag in unserer Evolutionsgeschichte günstig gewesen sein, weil wir dadurch unsere Aufmerksamkeit auf jene Dinge richten, die nicht auf ausgetretenen Pfaden ablaufen. Problematisch wird dies aber, wenn wir davon ausgehen, dass wir echte Wahrscheinlichkeiten einschätzen können.
Eine Zeitung, die das Tagesgeschehen real abbildet, würde kaum gelesen werden. Sie würde zum überwiegenden Teil aus Meldungen bestehen, die den reibungslosen Ablauf von Prozessen und das harmonische Miteinander beschreiben. Schlägt man eine Tageszeitung auf, ist sie jedoch voll von Ausrufezeichen. Das Gewöhnliche verschwindet, das Außergewöhnliche findet Beachtung. Klassische, und ganz besonders soziale Medien sind deshalb mit viel Vorsicht zu genießen, weil sie keine ungefilterte Berichterstattung darstellen. Was wahrscheinlich Aufmerksamkeit erregt, ist überrepräsentiert.
Unser vernunftbegabtes Gehirn erlaubt es uns, dies zu reflektieren, und gegenzusteuern, indem es sich selbst an die Leine nimmt, und immer wenn es etwas glaubt, genau nachfragt, was es denn überhaupt weiß.
INFO: Der naturalistische Fehlschluss
Gerne wird die Biologie herangezogen um egoistisches Verhalten zu erklären oder gar zu rechtfertigen. Das Tier in uns sei dafür verantwortlich, dass wir individuelle Ziele über das Wohl der Gemeinschaft stellen und deshalb könne (und solle) man daran auch gar nichts ändern. Dieses Argument ist falsch und unzulässig. In jeder Art, die nicht einzelgängerisch, sondern in Gruppen lebt, ist Toleranz gegenüber den anderen Gruppenmitgliedern Voraussetzung für das Funktionieren des Miteinanders. Demnach ist Toleranz eine Innovation, die bereits lange vor dem Auftauchen der ersten Menschen gemacht wurde. Die Biologie als Rechtfertigung heranzuziehen ist unzulässig, weil dies auf dem naturalistischen Fehlschluss beruht, dass was biologisch erklärt werden kann auch gut und erstrebenswert wäre. Dieser Ansatz reduziert uns auf unsere Existenz als biologische Organismen und leugnet, dass wir obendrein Sozial- und Kulturwesen sind, die den biologischen Mechanismen nicht hilflos ausgeliefert sind. Unsere evolutionär entstandenen Verhaltenstendenzen bestimmen unser Tun heute in einem eher beschränkten Ausmaß – es fällt uns leichter, manche Dinge zu tun, während andere mehr Überwindung kosten. Verhalten, das unseren biologischen Tendenzen entspricht, fühlt sich also ein wenig so an als würde man bergab gehen, während Handeln, das nicht biologisch begründet ist, mit dem Erklimmen eines Hanges verglichen werden könnte. Letzteres ist zwar anstrengend, aber alles andere als unmöglich. Wer als Egoist durch das Leben geht, muss also dazu stehen, dass er kein besonders netter Mensch ist. Die Biologie rechtfertigt ihn nicht.
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